Was mir umgekehrt wohl mein damaliges Selbst zu sagen hätte? Wahrscheinlich im ersten Augenblick nichts. Ich wäre wahrscheinlich überrascht, überhaupt noch am Leben zu sein, und inzwischen fast dreimal so alt wie damals. Zu sagen hätte ich wahrscheinlich eher wenig, dafür aber eine Menge Fragen. Fragen wie “Hast du Sex?”, “Bist du glücklich?”, “Gesund?”, “Spielst du in einer Band?” – solche Sachen. Und die sind nur auf den ersten Blick naiv. Die Jugend ist für die Fragen da, das Alter für die Antworten, bei jedem einzelnen. Ich hatte damals kein Bild von einer Zukunft, von einer Welt außerhalb der Schule. Wie kann man diesen eigenen Altersunterschied in der Seele nur überbrücken?
Ich mach mal Pause, um mit Schwester Heide zu reden, und um die nächste Runde hier im Krankenhaus selber zu drehen. Jetzt soll sie mal die Füße hoch legen.
Sie hat mir Fotos ihrer Enkel gezeigt, und da hab ich kurz überlegt, ob ich ihr Schwimmnudeln kaufen sollte, aber bis ich ihr das mit den Tentakeln erklärt hab, fragt sie sich sicher, warum ich sie als Monster verkleiden möchte. Aber etwas, dass sie mit ihren Enkeln teilen könnte, wäre schön. Ich frag sie nachher oder morgen noch, was sie denn damals als Kind für Spiele gespielt hat. Dann fällt mir bestimmt was ein. Im Lager gab es zum Glück so viel zu tun, dass die Stunden nur so verflogen. Allein die ganzen Geschichten, die man dort hörte waren unglaublich, wie etwa die von den zwei, die sich unter einen Zug geklemmt haben, und so von Budapest bis Wien gefahren sind. Unter dem Waggon! Wie im Film. Oder die drei Dresdner, die ihr Auto in Tschechien stehen ließen, um durch einen Wald nach Ungarn zu flüchten, wo sie dann beim ersten Schwung über die Grenze dabei waren. Gut, das klingt jetzt nicht mehr so spannend, wie sie es erzählt haben, aber dazu muss man halt wissen, dass bei ähnlichen Aktionen andere gestorben sind. Die wollten allen ernstes in Vilshofen bleiben, und hatten sich über die Pinnwand mit Arbeitsangeboten schon ein Vorstellungsgespräch für den nächsten Tag besorgt. Und immer die lachenden Gesichter dabei vor Augen, die Freude darüber am Leben und wo angekommen zu sein, machten einen auf eine Art und Weise betrunken, an die keine Droge der Welt heran kommt. Angeblich wären ja auch hier alle so freundlich, aber damit hatten eindeutig sie angefangen. Jetzt lachten natürlich alle. Das war ja gerade das Irre. Sie müssen das mitgebracht haben, denn hier hatte zuvor keiner gelacht, in meinen ganzen 18 Jahren dort nicht. Am Abend kamen dann nochmal ganze Busladungen an Neuen von der Grenze an. Das bedeutete natürlich Überstunden, aber auf die freute man sich.
Die Freude verbreitete sich aber auch so längst in kleinen Dosen im ganzen Land, denn in den zwei Tagen waren gut 300 Autos quasi direkt weiter gefahren, zu Verwandten die schon auf sie warteten. Nicht alle machten Halt um sich gleich wieder registrieren zu lassen, sondern drehten vorher eine Ehrenrunde in der Freiheit, fern von Listen, Stempeln und Aktendeckeln.
Ich half also Anträge auszufüllen, teilte dazwischen Essen aus, deutete in Richtungen, erklärte Wege, schleppte Sachen von hier nach da und von dort zurück, und hörte zu und nochmal zu. Anderen mit so einfachen Mitteln helfen zu können macht glücklich, und mir wurde klar, dass ich das nie und nimmer in der Schule gelernt hätte. In weniger als zwei Tagen. Was ich wirklich in dem Moment im Lager tat war, meine Reifeprüfung abzulegen, ich machte mein praktisches Abitur, nur die Schule nahm das weder zur Kenntnis, noch erkannte sie das Ergebnis an.
© Jens Prausnitz 2022
Anmerkung: Auch hier habe ich das direkte Rush-Zitat vorsichtshalber aus der Buchfassung gestrichen und anders gelöst.