Im Spielzelt fand ich dann zu meiner eigenen Überraschung einige Schwimmnudeln – warum hatten wir die da nochmal? Aus welchen Gründen auch immer, sie leisteten mir jetzt gute Dienste. Ich zog meine Arme bis zum Ellbogen an den Körper ins Hemd, so dass ich mir die Nudeln in meine kurzen T-Shirt-Ärmel klemmen, und dort mit der Hand stabilisieren konnte. So hatte ich noch einigermaßen Kontrolle darüber, und man konnte mir meine Tentakel prima ausreißen. Davon machten die zwei Jungs ausgiebig Gebrauch, und ich ließ sie mir schnell in anderen Farben unter dem T-Shirt nachwachsen, auch wenn das ein bisschen Fummelei war. Die Tentakel konnten der Burg nichts anhaben, und als ich Verstärkung von einem etwa gleichaltrigen Flüchtling bekam, übernahm der meine Rolle und ich ging mit deutlich besserer Stimmung zurück ins Lager.
Nebenbei war so das Tentakelburg-Spiel entstanden, für das Clara und Dennis inzwischen zu alt geworden sind. Als sie jünger waren, haben sie es geliebt, und Nadja mag den Ursprung inzwischen vergessen haben, doch gefreut hat sie sich jedesmal darüber, wenn sie uns dabei beobachtet hat, und da tat es mir schon nicht mehr so weh. Die Zeit heilt alle Wunden, nur woher soll man wissen, dass das 20 Jahre oder länger dauern kann, wenn man selbst gerade mal 18 ist? Da ist das noch mehr als ein Leben. Getröstet hätte es mich eh nicht.
Draußen, vor Zelt 18 hatte sich die riesige Schlange noch im Umfang verdoppelt, und stand weiterhin brav zwischen dem rot-weißen Absperrungsband. In dem Punkt sind DDR-Deutsche von ihren BRD- Pendants schon mal nicht zu unterscheiden. Das heißt doch, einen Unterschied gab es, aber nur dieses eine Mal: Nie wieder im Leben habe ich Deutsche irgendwo lächelnd Schlange stehen sehen. Weil das worauf sie warteten für alle reichen würde. Dort gab es keine Freiheit mehr abzuholen, denn die brachten sie mit, sie waren längst frei. Und was noch besser war: sie teilten ihre Freiheit mit uns. Alles, was es dazu brauchte, war ein Lächeln. Überwundenes Leiden, überwundener Schmerz. Geteiltes Leid mag halbes Leid sein, aber geteiltes Glück ist doppeltes Glück. Besser wird das Leben nicht mehr.
Jetzt sehe ich das so, verstehe es endlich, damals konnte ich es nur spüren, aber nicht begreifen, ich bekam es nicht richtig zu fassen, genauso wenig wie die Kinder meine Tentakel. Und wenn doch, rissen sie aus. Was dort dann langsam nachwuchs, kribbelte, so ähnlich wie eine verheilende Wunde. Ich würde meinem jüngeren Selbst gerne etwas zurufen, weniger um mich vor Stürzen und Knochenbrüchen zu warnen, als auf den langsam abklingenden Schmerz hinzuweisen, die andere Seite, die Klarsicht jenseits des Jammerns und Meckerns, die zwei deutschesten Disziplinen neben der Besserwisserei.
Mehr als das: wer aufmerksam genug ist, dem eröffnen sich jene Momente, wo einem gar nicht bewusst war, was man versäumte, wie gut es einem ging, das man die Sternschnuppe großen Glücks gerade verpasste, weil man blinzelte, oder zu Boden guckte.