27. Oktober 2019 – Nachtschicht

Aber solange sich Lukas auf dem Weg zum Geistler noch Zigaretten von den Bundesgrenzschützer schnorren konnte, hatten wir Beweise, und in Monika einen weiteren Anker in die Gegenwart. Ich mag mir nicht vorstellen, wie sich unsere Welt ohne diesen Trabi weiterentwickelt hätte. Wir waren endlich nicht mehr auf Lukas’ Bruder angewiesen, sondern konnten uns jeden Abend, jede Nacht der Woche unserer Freiheit versichern, und die Grenzen von Vilshofen hinter uns lassen, wie die Flüchtlinge die DDR. Nur wir kehrten am Morgen wieder dorthin zurück. Das Freiheitsgefühl stand bunt und rückwärts eingeparkt auf dem Gymnasiumsparkplatz wie ein Fremdkörper.

Wir konnten nichts für Daniel tun, außer in seiner Nähe zu sein, wo es uns möglich war. Lukas ist in seiner ganzen Schullaufbahn nie wieder so viele Tage am Stück pünktlich im Unterricht erschienen, und selbst wenn es anderen nicht auffiel, Daniel entging dieser Umstand nicht. Trotzdem mied er unsere Blicke. Ich glaub weil er sonst zusammengebrochen wäre.

Müde, müde, müde.

Wo soll ich hingehen? Ich meine fahren. Wo soll es in meinen freien Tagen hin gehen? Wenn schon Ostsee, dann lieber Rügen. Oder ich könnte gleich über die Grenze nach Polen, wenn ich schon mal da bin. Dort würde wahrscheinlich auch mein Geld länger reichen, und ich könnte sogar ein paar Tage länger bleiben? Aber ich spreche kein Polnisch. Allerdings käme mir das ja wieder entgegen, wenn ich meine Ruhe haben will.

Müde, müde.

Heide würde ins Allgäu fahren. Warum frage ich sie überhaupt? Um nicht einzuschlafen, aber so komme ich… mit der Bahn. Überall hin. Gerade geguckt. Stralsund, Rügen, Stettin. Von Berlin aus wär ich sogar billiger und schneller in Polen, dann aber noch nicht am Meer. Kann mich nicht entscheiden.

Müde.

© Jens Prausnitz 2022

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