Es war eine Woche, in der sich jeder verdammte Tag wie eine Zeitumstellung anfühlte, ohne je dort anzukommen. Nur stand sie nicht zwischen 2 und 3 Uhr in der Nacht still, sondern um 8 Uhr morgens. Lauter erste Stunden, alle hintereinander weg, und das Ende des Tages wollte und wollte einfach nicht näher kommen. Auch der Nachmittag war schon zum Großteil verplant, mit Hausaufgaben und Lernen auf die ersten anstehenden Schularbeiten. Daniel nahm es die Luft zum atmen, und nicht einmal in dem Pausen hatte er Ruhe. Sonst wäre er da mit uns in der Raucherecke gestanden, aber Goldhammer behielt ihn im Auge; selbst dafür schien es eine Absprache zwischen ihm und dem alten Speck zu geben. Schöne Scheiße.
Das Gymnasium war eine von tödlichen Strömungen umgebene Gefängnisinsel, wie die, auf die Dustin Hoffman und Steve McQueen am Ende von ‘Papillon’ verbannt werden. Daniel war bereits in die Vils gesprungen, aber die trug ihn nicht in die Freiheit, sondern er wurde gerade von den Wellen zurück ans Ufer geworden und seine Träume zerschmettert.
Jede Strömung führte uns nur weiter stromabwärts, mündete in den nächstgrößten Fluss und endete im Meer, wo weit und breit kein rettendes Ufer mehr zu sehen sein würde. Auf das Abitur folgte der Wehrdienst, nach dem Studium dann das Berufsleben bis zur Rente oder dem frühzeitigen Ableben. Das war kein Kreislauf, sondern dessen Ende, ein Herzstillstand.
Trotzdem blieb uns zunächst keine andere Wahl, als uns mit dem Strom treiben zu lassen. Alles so normal wie immer aussehen lassen, keine Wellen schlagen, weitermachen. Die doppelt beschriftete Tabelle einfach hinnehmen, bloß nichts hinterfragen, „war doch schon immer so“.
Wären da nicht zwei Neulinge an der Schule gewesen, wir hätten die vergangene Woche für einen Traum halten können. Doch ein Mädel in der elften und ein Junge in der neunten, die von „drüben“ waren, erinnerten uns daran, dass hier gar nichts normal war, dass wir in einem Albtraum lebten, aus dem wir entkommen mussten.
© Jens Prausnitz 2022