„Eine Schulwoche“, fuhr er fort. „Gerade mal eine Schulwoche, und ihr habt schon jetzt mehr als 100 Fehlstunden zusammen.“ Dabei sah er reflexhaft Lukas an, dann kurz mich, und am längsten Daniel, den Verlorenen. „Die ersten von euch sind inzwischen volljährig und nehmen das zum Anlass sich Freiheiten heraus zu nehmen, die euch und anderen Schaden zufügen. Was ihr dabei vergesst ist, ihr seid jetzt auch voll schuldfähig, und das heißt Gefängnis. Anstatt also Verantwortung zu übernehmen vernachlässigt ihr eure Pflichten. Pflichten der Schule gegenüber, euren Eltern, euch selbst und unserem Land gegenüber.“
Ich sah wie sich Daniel unter der Bank ins Bein kniff, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei hatte er an der Stelle einen riesigen blauen Fleck. Das wusste ich da zwar noch nicht, aber es sah schon vom hinsehen weh. Im Sportunterricht war er nicht zu übersehen gewesen, und für diese Woche hatte er sogar eine Befreiung von zu Hause mitbekommen, die wie üblich niemand hinterfragte. Also saß er als Häufchen Elend auf der Bank.
Goldhammer sah Daniel an und fuhr flüsternd fort. „Wenn krankheitsbedingte Schulversäumnisse bei einem Schüler besonders häufig auftreten, oder an der Erkrankung eines Schülers berechtigte Zweifel bestehen“, dabei sah er jetzt Lukas an, „dann wird die Schule nach §36, Absatz 2 der Schulordnung die Vorlage eines schulärztlichen Zeugnisses vom Gesundheitsamt Passau verlangen. Ist das klar?“
Das ging noch eine Viertelstunde so weiter, was am Ende ziemlich genau unsere halbe Schulstunde beanspruchte, und ihm ermöglichte, noch vor der nächsten Unterrichtswechsel die andere Hälfte unseres Jahrgangs mit exakt dem gleichen Vortrag beglücken zu können. Damit stellte er sicher, dass wir untereinander keine Absprachen treffen konnten. Ein willkommener Nebeneffekt seines Vorgehens war die in seinen Augen perfekte Balance aus Gruppendruck und getrenntem Verhör. Er hätte uns ja auch alle auf einmal in die Turnhalle beordern können, aber da hätte er bei den hinteren nicht mehr das Weiße im Auge sehen können. Sogar Geiger war so beeindruckt gewesen, dass er darüber vergaß uns den Rest der Stunde wenigstens einmal anzuschreien.
Jeder dieser Tage war ein einziger Kampf um Daniel’s geistige Gesundheit gewesen. Wie ein Tiger im Käfig kreiste er um nichts anderes mehr, als seine Flucht. Lukas und ich bestätigten ihn darin, nur mahnten wir zur Geduld, bis wir die Einzelheiten geplant hätten. Leider hatten wir überhaupt keinen Plan, womit wir anfangen sollten.