Doris sah mich stirnrunzelnd an. „Wie alt bist du?“
Ich guckte auf meine imaginäre Armbanduhr, wo nur ein Schweißband war. „Dieses Jahr 18 geworden.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wie du.“
Sie lachte und zeigte dabei wieder diese umwerfenden Grübchen. „Charmant ist der Schlingel auch noch!“
Ich stand auf und konnte nicht aufhören zu flirten. „Nadine ist gar nicht deine Schwester?“ Argh, das kam einfach so aus mir raus und meine Zehennägel klackten protestierend von innen gegen die Turnschuhe.
„Wo willst du denn hin?“
„Muss die Abendessensausgabe vorbereiten“, sagte ich und wandte mich zum Gehen. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du dir keine Sorgen machen sollst, wegen Nadine.“
„Tue ich nicht“, antwortete Doris. „Sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, und jetzt sind wir ja im Westen. In Sicherheit, oder?“ Mir entging der sarkastischer Unterton nicht. „Jeder wartete am Ende für sich allein, nicht wahr?“ Doris strich mit der Hand über das Gras, wo ich gesessen hatte, und die Halme richteten sich wieder auf, so als ob ich nie dort gesessen hätte.
Ich hatte bald Feierabend, wollte aber noch nicht nach Hause, sondern vorher Nadine sehen, und noch lieber ihre Narbe am Knie. Als Mama nach der Arbeit am Lager vorbei kam, um nach mir zu sehen, und mich noch bei der Essensausgabe fand, sagte ich ihr, dass ich heute später nach Hause käme. Ich wolle noch bleiben, und sie wusste was ich meinte, sah es mir an. Meine Beine taten schon weh, aber sie trugen mich trotzdem überall hin, nur nicht nach Hause.
Ich ging ins Spielzelt und lies mich dort von den Kindern in Beschlag nehmen. Wenn man sich auf Kinder einlässt, dann gibt es kein so tun als ob. Entweder man geht zu 100% mit, oder sie verlieren das Interesse an dir. Sie spüren, ob du dabei bist, oder nur so tust. Dann spielen sie lieber allein weiter, und man guckt nur zu. Mich brachte das Spielen endlich auf andere Gedanken und erlöste mich bald ganz von ihnen. Sie blieben an der Oberfläche schwimmend zurück, mit dem Gesicht nach unten, ertrunken.
Eine Kollegin machte dort ebenfalls eine Pause, oder hatte genauso Feierabend, wie ich, und sah uns zu. Sie war eine von denen, die aus Gießen gekommen waren, um uns mit dem Papierkram zu helfen. Früher oder später würden die das dort wieder ganz übernehmen, da war ja auch die zentrale Aufnahmestelle. Barbara hieß sie, und sie fragte mich jetzt, ob ich Geschwister hätte.
„Ich? Nein, wie kommst du darauf?“
„Ach, nur so“, lächelte Barbara, und lies mich weiter spielen.
Die Frage ob ich Geschwister hätte hat sich mir aber eingebrannt, und irgendwie ist sie auch mit dafür verantwortlich, dass ich heute hier in einer Kinderklinik arbeite. Man musste ja weder der leibliche Vater sein, um gut für Kinder zu sein, noch ein Lehrer, das war mir so vorher noch nie richtig aufgegangen. So wie sich dann auch Lukas später um seine jüngeren Geschwister kümmern sollte, so wie sein älterer Bruder zuvor in Ansätzen für ihn gewesen war. Dieses Licht hatte Barbara angeknipst, und wie bei einer Energiesparlampe dauerte es eine Weile, bis der Gedanke seine ganze, blendende Strahlkraft entwickelt hatte. Und Daniel hatte es auch schon so ähnlich gesagt, oder? Nur hatte Barbara es anders formuliert, oder einfach nur im richtigen Moment gesagt, so dass es hängen blieb. Mir hatten ja auch schon Pädagogen bei Sommerjobs vom Spielmobil gesagt, dass ich Talent dazu hätte, und ob ich nicht Lehrer werden wolle. Da war es mir immer kalt den Rücken runter gelaufen. Noch mehr Schule? Das war das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Ich wollte dort ein für allemal raus, nicht dorthin zurück. Deswegen habe ich doch bis heute diese Albträume davon, oder nicht? Aber es gab ja auch Wege außerhalb der Schule, und die Kinderklinik liebte ich.