25. September 2019 – Nachtschicht

„Wieso seid ihr nicht in Österreich bei ihm geblieben?“
„Ich war sauer!“, ärgerte sich Doris. „Auf ihn, obwohl wir ja nicht wussten, ob dort nicht doch auch welche von der Stasi unterwegs waren. Es heißt ja, dass die in Ungarn Kinder entführen, damit man bleibt, also warum nicht auch noch in Österreich? Vielleicht setzte er uns sogar hier der Stasi direkt mit ins Auto! Aber ich war so wütend auf ihn. Immer ist irgendwas. Ich habe versucht eine Entscheidung zu erzwingen, wir oder seine Patienten. Er kommt immer zuletzt, und seine eigene Familie ist an vorletzter Stelle. Bei ihm kann das Stunden oder Tage dauern. Tage, an denen ich seiner Tochter die Tränen trocknen darf, weil Papa noch nicht da ist, und ihm sicher was zugestoßen ist.“
„Klingt nach reichlich Pflichtbewusstsein.“
„Schon, aber wem gegenüber?“, schnaubte Doris. „Als Nadine klein war, hat sie gemeint, wenn sie nur selbst krank wäre, dass dann Papa bei ihr bliebe. Da hat sie sich das Knie aufgeschlagen, und sich mit Händen und Füßen gewehrt, dass ich sie verarzte. Kannst du dir das vorstellen?“
Ich sah verlegen zu Boden. „Das habe ich bei meiner Mutter auch mal gemacht.“
„Bei Nadine ist davon eine Narbe am Knie geblieben. Weil ich sie natürlich trotzdem verarztet habe, und wir haben beide geheult. Und als Papa dann das Pflaster begutachtet und für gut befunden hat, hat sie mich mit einem wütenden Blick angesehen, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Wie hat denn dein Vater reagiert?“
„Gar nicht, der ist ja abgehauen als ich noch sehr jung war. Ich wollte nur, dass meine Mutter mehr Zeit mit mir verbringt oder weniger arbeitet.“
„Das tut mir leid. Hat nicht geklappt, oder?“
„Nein. Ich war aber zu jung um das damals zu begreifen.“
„Ich werde nie vergessen, wie sie mich da angesehen hat“, schluckte Doris. „Es war nicht nur Wut auf mich, weißt du? Und ich habe auch lange gebraucht um zu verstehen, dass sie da begann ihre eigene Hilflosigkeit auch in mir zu sehen, dass ich es ja genauso wenig schaffte ihn Zuhause zu halten, und das schon viel länger als sie. Während sie an der Straße stand, und auf das dumme Auto wartete, war ich am Fenster gestanden, und wartete auf alle beide.“
„Immerhin kam er dann doch nach Hause“, sagte ich. „Mein Vater kam nie, und ich hab trotzdem auf ihn gewartet. Völlig irrational. An meinem Geburtstagen war es am Schlimmsten. Ich sah ihn immer hereinkommen, den Arm voller Geschenke, und ich sah mich in Zeitlupe auf ihn zu rennen. Von Jahr zu Jahr wurden die Geschenke kleiner, bis ich irgendwann nur noch von ausgebreiteten Armen träumte, die mich doch nie auffingen und wie im Karussell fliegen ließen.“
„Das muss schlimm gewesen sein.“ Doris legte ihre Hand sanft auf meinen Rücken. „Kein Kind sollte auf Liebe warten müssen.“
Ich sah sie an. „Eltern auch nicht. Ich habe lange nicht verstanden, was meine Mutter alles für mich aufgegeben hat. Ich kam immer an erster Stelle, aber man kann trotzdem übersehen, was das eigene Kind wirklich braucht.“

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