So ließ er mich stehen, und ich wollte nichts mehr, als hinter ihm her laufen. Scheiß doch auf meine Pflichten, mein Freund brauchte mich jetzt nötiger. Ich wusste zwar, dass Lukas perfekt allein mit ihm klar kam, nur reichte mir das nicht. Daniel brauchte mehr als Lukas, aber selbst wenn ich mitgekommen wäre, es hätte die Lücke, die es in ihn gerissen hatte nicht aufgefüllt. Vielleicht war es sogar besser, wenn ich gerade nicht dabei war. Ich musste ja selbst darauf klar kommen, dass Nadine weg war. Und Doris. Keiner von beiden konnte ich Lebewohl sagen, oder wenigstens traurig hinterher gucken. Auch mir fehlte etwas. Also zwang ich mich zurück in die Geschäftigkeit, in der ich jeden zweiten Eintrag auf den Formularen versemmelte, bis eine Kollegin übernahm und man mich zu einer Pause schickte.
Dann stand ich nervös rauchend neben der Tafel und konnte die Sätze darauf nicht mehr begreifen und mit mir in Verbindung bringen, wenn ich sie las: „Bitte füllen Sie den Aufnahmeantrag im Aufenthaltszelt aus und warten Sie hier bis zum Aufruf. Halten Sie ihre Ausweispapiere bereit.“ Für mich blieb davon nur „Warte hier“ übrig, und hasste jede Minute. Uns rief niemand auf, wir waren dazu verdammt in diesem Nest hocken zu bleiben, während alle anderen gingen. Der Schmerz war immer schon da gewesen, Vilshofen, die Kleinstadt, das Ländliche, und die Flüchtlinge hatten das nur vorübergehend betäubt. Jetzt, wo die Wirkung nachließ, kam der ganze Schmerz in seiner vollen Heftigkeit wieder, und ich wusste, dass auch ich nicht hier bleiben konnte. Den Gedanken konnte ich damals, an jenem Nachmittag noch nicht so formulieren, aber ich spürte es.
Als Lukas dann endlich mit Daniel kam und ich das Elend in seiner ganzen Breite sah, brach in mir etwas auseinander. Dieser Tag stellte eine Zäsur im Leben von uns dreien dar, die mit nichts sonst zu vergleichen war. Und nicht nur bei uns, auch bei Nadine und ihren Eltern. Die Geschehnisse breiteten sich immer weiter aus, wie Wellen, nachdem man einen Stein ins Wasser geworfen hat. Die Wellen trieben uns von hier aus immer weiter auseinander. Nur was war hier eigentlich der Stein gewesen, welches Ereignis? Der dumme Speck vielleicht? Nein, an ihm war ja nichts neu, und so schmerzhaft es mitanzusehen war, so routiniert gingen wir damit um. Eigentlich muss es Anton Rothe gewesen sein, oder nicht? Bevor er kam, war alles gut gewesen. Wir hatten uns bei den Geflüchteten mit dem Freiheitsfieber angesteckt, und in nur zwei Tagen Antikörper gegen alle Formen der Unterdrückung entwickelt, von denen wir auch hier umgeben waren.
Daniel sah fürchterlich aus, obwohl er frisch geduscht und in meinen (oder sogar seinen) Klamotten steckte. Lukas und ich brachten ihn in den Sanitätswagen, wo ein Arzt seine Wunden genauer unter die Lupe nahm. Die Hand aufgeschürft und verstaucht, Gitarre spielen fiel damit erstmal flach. Außerdem ein Fußgelenk vom Sprung in die Vils verstaucht, weswegen er jetzt humpelte. Aber die größte Wunde stand ihm ins Gesicht geschrieben, und war mit nichts zu behandeln, nicht von außen. Der wiederholt erlittene Vertrauensbruch durch Erwachsene, es widerte ihn so an. Und dann war da noch Wut, so konzentriert wie nie.