13. September 2019 – Nachtschicht

Wenn sie mich gebeten hätte ihr bis ans Ende der Welt zu folgen, ich hätte alles stehen und liegen lassen. Die Zeit blieb in ihrer Gegenwart stehen, schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, alles wahr da, die Wahrnehmung so klar wie wenn man sich seine frisch geputzte Brille aufsetzte. Gleichzeitig war es genau umgekehrt, nicht mehr so scharf, die Grenzen verliefen, alles wurde eins. Ich war mit ihr vereint in diesem Moment. Als hätte ich mein ganzes Leben für diesen einen Moment trainiert, ohne es zu wissen, im Schlaf eine Sprache gelernt, direkt ins Unterbewusstsein geschrieben, und dann sprichst du sie, als hätte es nie eine andere gegeben. Eine zweite Muttersprache, eine neue Heimat. Kein Schlafwandler mehr, sondern der Traum wurde hier zur Wirklichkeit und die Welt zum Traumhintergrund. Wie einen Ertrinkenden zog sie mich aus dem Wasser, und mir war als würde ich nach Jahren zum ersten Mal Luft holen.

In dem Moment verstand ich, was Freiheit ist. Was wirkliche Freiheit ist. Wie Freiheit geht. Mit ihr. Freiheit umwehte sie wie ein Duft.

Und dass sie uns von drüben mitgebracht wurde. Und dass wir keine Ahnung hatten.
Gar keine, von nichts.
Es klingelt.

Es hat wirklich geklingelt, unten an der Tür zur Notaufnahme. Ein Junge hat Spaghetti erbrochen, und ist mit Verdacht auf Blinddarm rüber ins Klinikum gebracht worden, und ich hab die Sauerei eben aufgewischt.

Alles hätte anders verlaufen können. Rede ich mir jedenfalls ein. Wenn ich ihr zuerst begegnet wäre, nicht Daniel, so wie es eigentlich hätte sein sollen. So wäre es richtig gewesen. Und der säuerliche Geschmack von frisch Erbrochenem hängt mir immer noch in der Nase.

Jetzt hat sich Schwester Anita darüber beschwert, dass ich hier nur noch rumsitzen und schreiben würde. Immerhin mal was Neues, sonst beschwert sie sich ja darüber, dass ich hier Bücher lese. Natürlich während sie ihre Klatschspalten zum hundertsten Mal durchblättert. Ich glaub in Wahrheit ist sie nur eifersüchtig, auf was immer ich schreibe, weil das könnte ich ja genauso gut ihr erzählen. Dabei bin ich froh darüber, mal nicht mir ihr reden zu müssen. Wobei reden nicht stimmt, mehr Zuhörer sein, für was immer sie jetzt wieder skandalöses gelesen hat, oder welche neuen kruden Ansichten sie vertritt. Das hält sie wach, aber mich macht das wütend. Wut hält einen zwar auch wach, aber gut ist das nicht. Trotzdem sollte ich vielleicht irgendwas für sie tun. Ich glaub, ich werd ihr ein Buch kaufen. Sie liest halt leider gerne Krimis, was überhaupt nicht mein Fall ist. Aber vielleicht hat Mama einen Tipp für mich, sie liest ja ab und zu mal einen. Werd sie fragen, wenn wir uns das nächste Mal sehen.

© Jens Prausnitz 2022

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