12. September 2019 – Nachtschicht

Es war verdächtig, dass es immer Nadja war, die von Ungarn erzählte, und Daniel von Passau – nie umgekehrt. Was das Waisenhaus anging, blieben sie beide gleich vage, und Daniel hat sich bestimmt das eine oder andere aus „Gottes Werk & Teufels Beitrag“ von John Irving geborgt, ohne daran zu denken, dass die beiden das später mal selbst lesen könnten.

Jede Recherche zu ihren Heimen haben Daniel und Nadja abgeblockt, verschleppt, nicht weiter verfolgt. Weil sie wussten ja um die Lüge, die mit jedem weiteren Verzicht auf Nachforschungen nur größer und offensichtlicher wurde. Wenn nicht für Clara und Dennis, dann doch für mich. Und wenn mir schon Zweifel kamen, dann würden sie irgendwann auch Verdacht schöpfen.

Nach all den Jahren haben Nadja und Daniel noch Angst vor ihren Eltern. Noch immer laufen sie vor ihnen davon, haben Angst davor, mit ihren Kindern an der Hand einmal in einer Fussgängerzone vor ihnen zu stehen. Daniel weniger, seit sein Vater gestorben ist, er hat sich da seitdem ein wenig entspannt. Seine Mutter hatte den alten Speck bereits vorher verlassen, einen anderen geheiratet und ebenfalls Vilshofen den Rücken gekehrt (wenn auch vielleicht in einer anderen Reihenfolge).

Aber bei Nadja ist es noch immer so schlimm wie damals, die Sache ist nie richtig verheilt. Nicht weil sie Angst vor ihnen hatte, wie Daniel, sondern weil die Enttäuschung viel zu tief saß. Der Spalt, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte, war unüberbrückbar, kilometertief, schwarz und eiskalt. Nach all den Jahren wusste sie auch nicht mehr, was es noch zu sagen gegeben hätte. In den ersten Jahren hat sie die Situation immer mal wieder in ihrem Kopf durchgespielt, um Antworten gerungen, aber irgendwann hörte selbst das auf, und so durfte es gerne bleiben.

Außerdem hatte ja auch Nadine eine Postkarte geschickt. Allerdings erst später, weil sie zunächst gar nicht wusste wohin damit. Bis ihr der Gedanke kam, sie an Bekannte ihrer Eltern in der DDR zu schicken, als aus ihr schon die neuen Bundesländer geworden waren. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Eltern nach der Wiedervereinigung wieder Kontakt zu ihnen aufgenommen hätten. Sie waren politisch aktiv gewesen, gehörten zu den Reformern, die die DDR von Innen heraus reformieren wollten, und jede Flucht kategorisch abgelehnt hatten. Sie waren die einzigen gewesen, denen ihre Eltern schon vorher davon erzählt hatten, so sehr vertrauten sie einander, und respektierten ihre – wenn auch gegenteilige – Meinung. Nadine hatte Anfang 1990 in einer Zeitung von ihnen gelesen, dass sie Teil des Neuen Forums geworden waren und wusste also, dass sie in keinem Stasi-Knast saßen, weil die Rothes weg waren. Wenn sie als IM enttarnt werden sollten, war es ihr im Grunde auch egal. Und damit hatte es sich.

Antwort hat sie natürlich keine darauf bekommen, weil auch diese Postkarte als kommunikative Einbahnstraße konzipiert war, die nicht zurückverfolgt werden konnte.

Die Postkarten waren für beide, für Daniel und Nadine ein Weg gewesen, Frieden mit ihren Eltern zu schließen, als würden deren Pappkanten die Nabelschnüre ein zweites Mal durchschneiden.

Nur der räudige Speck fand sich nicht damit ab, fuhr immer wieder nach Luxemburg und hoffte wohl darauf seinem Sohn dort eines Tages zufällig über den Weg zu laufen. Dabei war Daniel sonnenklar gewesen, dass er Luxemburg nie wieder betreten würde, nur blieb seinem Erzeuger selbst noch der offensichtlichste Symbolismus verborgen.

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