12. Oktober 2019 – Nachtschicht

Am Bahnhof angekommen wurde es dann erst so richtig schlimm, denn es gab nichts mehr zu tun, und still sitzen ging schlecht. Alle, wie wir da standen sahen gebannt zu der schwarzen Rauchfahne, die sich langsam auf der anderen Seite der Gleise hoch oben in der Luft verteilte. Was immer dort gebrannt hatte, war jetzt unter Kontrolle, glimmte aber um so heißer und gefährlicher in uns weiter. Wir mussten stehen, sitzend hätten wir uns den Arsch verbrannt, weil sich die Sitzplätze so in der Sonne aufheizten. Ich versuchte Doris zu beruhigen und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, es ginge bestimmt allen gut und was man eben so in solchen Situationen sagt, ich war klar überfordert. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt zugehört hat, obwohl sie immer nickte. Das konnte auch ihren eigenen Gedanken gelten. Wir wussten beide, dass hier etwas eskaliert war, und es davon kein zurück mehr gab. Etwas war unaufhaltsam in Bewegung gesetzt worden, und jetzt konnte man nur noch dabei zusehen.

Die Zeit verging schrecklich langsam, ein Zug hielt, Menschen stiegen aus, andere ein, und weg war auch der. Der nächste, der hier halten würde, wäre dann schon ihrer. Und eher, als uns lieb war, fuhr der an unserem Gleis ein, aber niemand kam. Doris und ich sahen uns an, wir hatten beide schon geahnt, dass es genau so kommen würde. Andere aus dem Lager, die ebenfalls mit uns dort gewartet hatten stiegen ein, und sahen uns fragend an, ehe sie im Waggon verschwanden. Dann standen wir alleine dort, und Doris hielt es nicht länger aus.
„Ich gehe jetzt nachsehen.“
„Nein“, sagte ich, und stellte mich ihr in den Weg. „Ich gehe. Ich renne!“
„Ich komme mit.“
„Und die Koffer?“
„Scheiß auf die Koffer!“
„Und was wenn sie gleich kommen?“
„Dann nehmen wir den nächsten verdammten Zug. Müssen wir doch sowieso.“
„Ja, und was werden sie denken, wenn sie hier nur die Koffer stehen sehen?“
Jetzt hielt Doris inne, sie wollte etwas erwidern, aber dann brach sie in Tränen aus und ich nahm sie in den Arm, wie eine Stunde zuvor ihre Tochter.
„Ich bin gleich wieder zurück, ich verspreche es“, sagte ich, als sie sich wieder gefangen hatte. Dann rannte ich los, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Wieder einmal war sie es, die auf andere warten musste.

Doris habe ich seitdem nicht mehr wiedergesehen.

In der Zwischenzeit hatten Nadine, Daniel und Lukas sich so etwas wie eine Verfolgungsjagd mit Anton Rothe geliefert. Die waren auf die B8 gefahren und haben dort schnell Boden gut gemacht, und wenn Nadine nicht an der Unterführung vorbei gebrettert wäre, dann hätten sie sie noch dort abgefangen. So sahen sie einander plötzlich auf gleicher Höhe nebeneinander her fahren, der bunte Trabi war ja nicht zu übersehen, und der BGS-Geländewagen hupte unüberhörbar. Was sie rettete, war ihr minimaler Vorsprung in Sandbach, wo Lukas Nadine zur Fähre dirigierte, mit der sie ablegten, noch bevor ihre Verfolger die Anlegestelle erreichten. Das konnte auch nur Lukas einfallen, aber er hatte Recht. Wenn du nicht schnell genug bist, um deinen Verfolgern davon zu fahren, wechsle auf ein noch langsameres Verkehrsmittel.

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