Das klingt so sehr nach Lukas, dass ich keinen Zweifel an der Geschichte habe, außerdem hatte er die Zigarette noch in der Hand, als er mich weckte, um die Familie zu registrieren. Seine Nasenspitze war nicht blass, die Backen nicht gerötet, die Ohren sah man der langen Haare wegen eh nicht – nichts sprach für eine Lüge, und doch will ein Teil von mir diese Geschichte nicht wahr haben. Die beiden waren sich sonst nie in etwas einig, kriegten sich wegen Kleinigkeiten in die Haare, und ich versuchte zu vermitteln. Aber nicht hier.
Dieser Satz war so prophetisch, dass man ihn eigentlich einem Geschichtsband zur Wiedervereinigung voranstellen müsste. Der Ausverkauf der DDR durch die Treuhand schwang darin schon ebenso mit, wie das völlige Unverständnis für die geschichtliche Dimension dieses Moments. Das war wie die Mondlandung, und so als ob Neil Armstrong nach seinem ersten Schritt auf ungewohnten Terrain, noch bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte zu hören bekam: “Das können sie hier aber nicht so stehen lassen!” – einschließlich eines Strafzettels für Falschparken.
Und doch ist es genau dieser Parkplatz, zu dem ich immer zurückkehre, oder? Oder genauer zu dem, was einmal darauf stand. Ich suche in den Straßen von Vilshofen nach den Zelten, die mir so viel bedeutet haben. Wir haben ja weiß Gott oft gezeltet, und das hat mir ehrlich gesagt nie sonderlich gefallen. Aber als die Zelte dort auf dem Bergerparkplatz standen, war mir Vilshofen zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein Zuhause geworden, genau wie für die Flüchtlinge, die herzlich aufgenommen wurden. Ich habe selbst dort endlich Zuflucht gefunden, nicht nur die Flüchtlinge aus der DDR, die wir Übersiedler nennen sollten, und ich habe dort begriffen, das mich dort nichts mehr halten musste, ja vielleicht nicht einmal meine Freunde.
Das Zeltlager hatte sich binnen eines Tages in das schlagende Herz der Stadt verwandelt, die flexiblen Zeltwände pumpten Menschen durch die Straßen wie Blut durch die Adern, Nährstoffe kamen in Form von Kuchen und Kleiderspenden dorthin und wurden weiterverteilt. Die Stadt fühlte sich endlich lebendig an, erwachte zum Leben. So hätte es immer sein müssen. Einen Tag vorher hatte sich dort noch rein gar nichts geregt. Die Trabis waren wie eine Transfusion für dieses schläfrige Herz, das Lager ein Defibrillator, der es unter Strom setzte und wieder zum Laufen brachte. Nein, es war eine Herztransplantation für ein totes Land, und die rettete unser aller Leben. Das war keine Wiedervereinigung, sonder eine Notoperation. Endlich regte sich was in dem Laden.
Apropos regen – eine Schraube von unserer Überwachungskameras hat sich gelockert und lässt den Kopf hängen. Ich kleb dem Hausmeister besser noch einen Haftzettel an sein Kabuff, wenn ich gleich meine Runde drehe.
© Jens Prausnitz 2022