10. November 2019 – Nachtschicht

„Es wird schon gut gehen. Wirst schon sehen. Wie wär’s, wenn ich ein bisschen huste? Noch vom Donauwasser und so.“
„Lass es. Je weniger wir spielen, desto besser. Schau dir was bei den anderen ab, die vor uns in der Schlange drankommen. Aber unauffällig.“
Als dann die Busse kamen und es von Menschen nur so wimmelte, mischten sie sich darunter und stellten sich mit an. In der Menge wurde auch Nadine wieder ruhiger, nahm Daniels Hand, drückte sie, und ließ ihn nicht wieder los. Dann hat er sicher vor Glück gestrahlt, wie alle um sie herum. Erschöpft und glücklich. Ich weiß genau, wie das aussah. Wer so was vor sich sieht, der legt niemandem mehr Steine in den Weg. Das genügte auch den Beamten dort. Es kam keine einzige dumme Frage, nichts. Nicht einmal, warum sie auf keiner der Buslisten auftauchten. Sie waren wahrscheinlich nicht die einzigen, die dort zu Fuß ankamen, und sich ganz auf sich gestellt irgendwie nach Gießen durchgeschlagen haben.
Und so wurde aus Daniel Speck und Nadine Rothe das Ehepaar Nadja und Daniel Fischer. Irgendwie schön, dass sie sich beide einen neuen Namen gegeben haben, und fortan beide in Dokumenten aufpassen mussten, nicht versehentlich etwas unter „geb.“ einzutragen.
Fischer gefiel mir, es war ja auch im, am und auf dem Wasser gewesen, wo sie sich verliebt hatten, vom Stausee zur Donau und Daniel’s Sprung in die Vils. Ich hab sofort wieder Nadine’s nasse Haare vor Augen, wie sie ihr im Nacken klebten, und ich sie dort gerne zur Seite gestrichen hätte.
Aber warum hat Nadine ihren Vornamen abgelegt? Ich glaube inzwischen, dass ihr das zu weich klang, zu westlich, und sie deshalb noch spontan auf Nadja umgeschwenkt ist. Nicht, wie sie es jetzt erzählt, mit „da steckt Ja und Nein drin, vor allem das Bejahende“. Eine Ecke vom neuen Leben entfernt wird man auch mutiger, und so verwischte sie nicht nur ihre Spuren weiter, sondern machte es glaubwürdiger, dass sie wirklich aus dem Osten kamen. Nadine hat ihren Namen geopfert, ohne zu zögern, um auf Nummer sicher zu gehen. Das war ihr abergläubischer Moment, so wie auch das Geständnis von Lukas oder unsere Fluchtorganisation. Jeder von uns brachte ein symbolisches Opfer für diesen Neuanfang. Und Fischer inspirierte mich und Lukas dazu ihnen Codenamen zu verpassen: Axel und Christiane F. Die ganze Geschichte ist viel zu schön, um sie nicht Dennis und Clara zu erzählen.

Ein Mädchen auf Zimmer 4 ist aufgewacht und kam zu uns ins Stationszimmer, sie könne nicht einschlafen. Sie wollte, dass ich ihr etwas vorlese. Das geht halt schlecht, mitten in der Nacht, mit anderen Kindern (und Elternteilen) im gleichen Zimmer. Aber dann hatte ich eine Idee. Ich nahm eine Packung Taschentücher und knisterte damit vor ihrem Kopf.
„Kannst du das hören?“
„Ja.“ War ihre knappe Antwort.
„Mach die Augen zu und achte darauf, wo es dann hin wandert.“
Ich knisterte langsam um ihren Kopf herum, wie ich es inzwischen dutzende Male in Videos gesehen hatte. Schwester Anita wollte schon was sagen, aber ich schüttelte nur leicht den Kopf und legte den freien Finger vor meine Lippen. Sie schwieg und beobachtete fasziniert, wie dem Kind langsam die Aufmerksamkeit entglitt, und der Kopf nach vorne fiel.
„Komm, wir gehen zu deinem Bett, und schauen, ob du das Knistern auch noch zwischen den piepsenden Geräten heraushören kannst, ja?“
Und was soll ich sagen, es hat funktioniert! Ich hab ASMR in der Arbeit benutzt. Musste sogar ein bisschen unverständlich flüstern, weil das Knistern alleine nicht reichte, aber dann glitt sie problemlos hinüber in den Schlaf. Die Zwillinge werden stolz auf mich sein!

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