„Das ist gleich da vorne um die Ecke, im Meisenbornweg.“
„Du bist so nervös, sollen wir vielleicht noch warten?“
Nadine schüttelte den Kopf. „Heute oder nie. Mein Vater fängt am Montag im Lager als Arzt an, bis dahin müssen wir dort wieder raus sein.“
„Das schaffen wir schon.“
„So einfach ist das nicht!“ Sie nahm ihn zur Seite. „Und dann sind da bestimmt noch welche von der Stasi unter den Flüchtlingen.“
„Unter den F… – Das ist doch paranoid!“
Nadine boxte ihn. „In Ungarn haben die Kinder in die Falle gelockt, um deren Eltern zu erpressen. Also erzähl’ mir nichts von paranoid. Da sind garantiert welche unter den Flüchtlingen!“
„So wie wir?“
„Nein, nicht so wie wir – denen nimmt man auch ab, das sie aus dem Osten kommen!“
Daniel sagte mir später, dass Nadine gar nicht mehr wie sie selbst auf ihn gewirkt hatte. Was sicher auch an ihrem nur noch kinnlangen Haarschnitt lag, der ihm natürlich mehr ins Auge stach, als sein eigener. Andererseits war auch er nicht mehr derselbe. Der zögerliche, in sich zurückgezogene Daniel war einem zu allem entschlossenen Draufgänger gewichen. So wirkte er jedenfalls auf uns. Wie verwandelt. Und da hatten sie sich noch nicht mal ihren neuen Namen überlegt.
„Ich war übrigens neulich in der Mayerschen, da hast du nicht zufällig das Buch für mich gekauft?“, fragte mich Schwester Anita auf Station beiläufig.
„Im Forum oder der anderen? Kann schon sein, ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Wieso fragst du?“
„Ach, weil da an der Kasse zufällig auch der Tee stand, den du mir mitgebracht hast.“
Oh weh, sie hat doch hoffentlich keinen…
„Ich hab mir direkt wieder welchen gekauft. Für Zuhause.“ Da fällt mir jetzt aber ein Stein vom Herzen.
Oh ja, die Namen. Damit fing es an. Die beiden hießen ja nicht schon immer so wie heute. Daniel hieß mit Nachnamen Speck, und da habe ich mich nie gefragt, warum er den loswerden wollte, allein schon deswegen um nicht mehre so manisch auf seine Figur achten zu müssen.
Nadine änderte beides. Rothe war zwar ein schöner Nachname, und wenn ihre Eltern vor ein paar Wochen nicht so einen Zirkus gemacht hätten, dann hätte Daniel bestimmt gerne ihren Familiennamen angenommen. Also wenn es nach ihm gegangen wäre, denn seine Eltern hätte allein dieser Vorstoß wohl gereicht, um jede Hochzeit zu boykottieren. Und um ihn zu enterben. Nicht, dass es da viel zu erben gegeben hätte.
Sie haben es mir so erzählt, dass sie erst auf den letzten Metern vor dem Notaufnahmelager darüber geredet haben. Also über die Namenswahl. In einem Gebüsch, wo sie auf die Ankunft der nächsten Busse warteten. Vorher haben sie sich so sehr auf ihre Hintergrundgeschichte mit dem Waisenhaus abgestimmt, dass sie darüber glatt vergessen haben, dass sie auch einen Namen brauchten.
Ich hab mir schon oft versucht die Szene vorzustellen:
„Unsere Ringe haben wir an die Schlepper verloren, bevor wir durch die Donau geschwommen sind, aber haben wir denen auch unsere Namen verkauft? Wie heißen wir denn überhaupt?“