Bei mir hatte er auch versucht Informationen zu erpressen, aber meine Mutter hatte nicht lang gefackelt, sondern gleich die Polizei gerufen, als er bei uns vor der Tür stand. Einen weiteren Grund hätte es da schon nicht mehr gebraucht, aber so fiel uns die Entscheidung aus Vilshofen weg zu ziehen leichter, als sowieso schon. „Nie wieder Kleinstadt“, sagte meine Mutter. Noch im Frühjahr 1990 waren auch wir weg, und Lukas, der Arme blieb allein zurück. Wie gesagt, sein Bruder war so gut wie nie zu Hause. Wir blieben in Kontakt und verbrachten im Sommer einen Teil der Ferien zusammen, aber er kehrte weiter unbeirrbar dorthin zurück, obwohl er jetzt von allen Seiten so schief angesehen wurde, wie zuvor ich. Er war der Langhaarige, der die Prügel sicher auch ein wenig verdient haben musste. Irgendwas hatte er doch bestimmt ausgefressen, von nichts kommt nichts! Aber weg wollte er von dort trotzdem nie.
An Lukas prallte das alles ab, so schien es jedenfalls. Er trug seine Offenheit immer vor sich her wie einen Panzer. Die Blicke ignorierte er, er hatte nichts zu verbergen. „Jo mai, fia an Versaga homs mi vorher a scho ghoidn.“ Seine bloße Anwesenheit bewies eigentlich das Gegenteil, und ich konnte mir nie erklären, warum er dort blieb. „Mei näim is Lukas, ei liff on sä säkänd floa“, sang er, und fuhr fort. „Aba ehrlich Johann, i bin hier dahoam, und des los i mia fo neamand nehma, ob’s erna passt oda ned.“
Ich hab das immer bestritten, aber irgendwas muss da dran sein, Albtraum hin oder her. Wenn ich träume, dann bin ich häufiger dort im Gymnasium, als irgendwo sonst, obwohl ich länger anderswo gewohnt habe. Ganz selten finde ich mich dort auch mal draußen auf den Straßen wieder, am Stadtplatz oder stehe vor der Vilsbrücke, aber eine Biegung später ist man woanders, in einer anderen Stadt, und dort kenne ich mich nicht einmal mehr aus. Denn in Vilshofen selbst kann man sich überhaupt nicht verlaufen. Außerdem hat sich in den letzten 30 Jahren dort so gut wie nichts verändert, behauptet Lukas. Er hält mich da auf dem Laufenden, denn ich war dort ebenso wie Daniel und Nadja seitdem nie wieder gewesen. Und ich vertraue ihm. Er kann ja nicht lügen.
© Jens Prausnitz 2022