09. November 2019 – Nachtschicht

Darum mag ich die Stolpersteine, sie bringen mich aus dem Tritt und zu überraschenden Gedankensprüngen. Die sind wie die Delle im Dach von Monika, nur halt beschriftet.
Ich weiß noch, wie die Delle hinein kam, und es war meine Schuld. Das war auch an dem Tag gewesen, als Daniel mit dem Zug aus Vilshofen hinaus fuhr, und mich dort zurück ließ. Lukas aber schon am Bahnhof. Ich konnte dort unmöglich stehen. Nicht schon wieder. Also hatte mich Lukas mit Monika aus der Stadt fahren lassen. Das Fahren hat er mir am Vorabend beigebracht, auf den Parkplatz, wo noch überall die Farbflecken von seiner Bemalung waren. Die waren wirklich überall, Nadine und Daniel hatten ganze Arbeit geleistet. Da mussten wir beide schlucken. Dann fuhr Lukas die Strecke noch mit mir ab, damit ich mich zurecht fand, und wir machten aus, wo ich ihn hinterher wieder einsammeln sollte.
Irgendwie schaffte ich es rechtzeitig bis auf halbe Strecke nach Pleinting, obwohl ich dabei mehrfach den Motor abwürgte, weil mein Fußgelenk so schmerzte. Das hatten wir nicht bedacht. Dort parkte ich, so dass man den Trabi auch vom Zug aus gut sehen konnte, vor allem natürlich dann, wenn jemand auf dessen Dach stand. Daniel musste nur aus dem Zugfenster gucken, dann würde er sehen, wie ich dort auf dem Dach stand, die Arme ausgebreitet, wie der ans Kreuz genagelte Jesus auf unsichtbarem Holz. Als der Zug auf meiner Höhe war, also die Lokomotive, so dass ich alle Waggons sehen konnte, da salutierte ich mit der Faust an der Schläfe, die Volksfront von Johann. Als der letzte Wagen an mir vorbei war, winkte ich ihm nach. Aber ehrlich gesagt habe ich da schon nichts mehr gesehen. Mir liefen die Tränen nur so runter und alles war verschwommen, als wollte ich mich selbst in die Donau hinter mir spülen.
Als ich wieder etwas sehen konnte, fuhr ich los um Lukas an der Aral-Tankstelle wieder einzusammeln, wo er wieder das Steuer übernahm und uns zurück in die Schule brachte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, denn alles war heile geblieben, bis er beim einparken die Stelle im Dach bemerkte.
„Tut mir leid wegen der Delle“, gestand ich. „Ich drück sie dir wieder raus.“
Er lehnte kopfschüttelnd ab. „De is für Daniel. Die bleibt genau da wo’s is. Für immer.“ So ist ‘Delle’ für uns vorübergehend zum Codewort für Daniel geworden.
In der Schule hat wie durch ein Wunder niemand unsere Abwesenheit bemerkt. Aber uns beiden fiel der leere Stuhl von Daniel ins Auge, und wir mussten uns zusammen reißen, dass wir nicht in Tränen ausbrachen, sondern brav unsere Rolle weiter spielen.

Begonnen hatte es keine zwei Stunden zuvor so: Gegen Ende der zweiten Schulstunde klagte Daniel über Bauchschmerzen und durfte auf’s Klo gehen. Von dem kam er nie wieder und es ging in die große Pause, danach hatten wir eine Freistunde. Das gab ihm genug Vorsprung um sich beim Bahnhof zu verstecken, nachdem er sich von der Krankenhausstraße aus über die Gleise schlich, damit ihn niemand noch auf den letzten Metern in der Innenstadt abfangen konnte. Hätte ihn unterwegs jemand erwischt, wäre er auf dem Weg zum Krankenhaus gewesen. Wegen der Bauchschmerzen natürlich. Blinddarm oder so. Hanebüchen alles, aber für uns klang es überzeugend und vor allem beruhigend. Er lief ja auch am Krankenhaus vorbei über die Wolfach-Brücke zu dem Busch, wo wir am Abend zuvor einen der Rucksäcke versteckt hatten. Mit dem auf dem Rücken sah er dann auf der anderen Seite der Gleise wie ein Rucksacktourist aus. Beim Bahnhof konnte er sich auf dem hinteren Teil des Parkplatzes verstecken, wo nichts los war und die Autos der Bahnangestellten parkten. Dorthin würden wir ihm den zweiten Rucksack bringen, der im Kofferraum von Monika lag. Während der großen Pause verschwanden wir dann auch und fuhren mit Monika ebenfalls die Krankenhausstraße hinunter aus Vilshofen heraus. Dort überquerte Lukas mit dem zweiten Rucksack die Gleise, wie es zuvor Daniel getan hatte, und ich fuhr unter der Unterführung mit dem Trabi auf die B8 (die gleiche, die Nadine damals verpasst hatte), und an Vilshofen vorbei. Nach den wenigen Fahrstunden war ich alles andere als sicher hinter dem Steuer, und die hupend an mir vorbei fahrenden Autos machten es nicht besser. Ob sie wegen meiner Fahrweise hupten, oder weil sie mich als Flüchtling begrüßten, konnte ich gar nicht sagen. Mein bester Freund verließ die Stadt, und das brach mir gerade das Herz. Ein zweites Mal, denn er fuhr zu der Frau, die ich genauso liebte, wie er. Die Hupendrücker konnten mich alle mal, ich zog hier mein Ding durch, und wenn es das letzte sein sollte, was ich tat. Selbst wenn sie mich deswegen in den Knast gesteckt hätten, ich würde es wieder tun, Herr Richter! Was einem halt so durch den Kopf geht.

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