„Aber heute kann man doch nicht die Deutsche Einheit feiern!“, meinte Schwester Anita vorhin zu mir, als ich ihr diesen Gedankengang ein wenig widerwillig erzählt habe, nachdem sie gefragt hatte, ob ich denn da heute was zu schreiben würde. Also zum Mauerfall. Sie schien ein wenig enttäuscht über die Antwort zu sein, was mich wohl ein bisschen wütend gemacht hat.
„Ja eben“, rief ich. „Da gibt’s nichts zu feiern, sondern dankbar zu sein.“
„Wem denn? Wir haben uns doch selbst – -“
„Haben wir nicht“, unterbrach ich sie barsch. „Man hat uns gelassen. Angefangen haben die Polen, die Ungarn, Gorbatschow.“
„Denen sind wir doch auch dankbar, ich – -“
„Das meinte ich nicht!“ Schon wieder hatte ich ihr das Wort abgeschnitten. Sie fragte erst gar nicht nach, wahrscheinlich um kein drittes Mal so von mir angefahren zu werden. „Tut mir leid, ich… ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich rede nicht von uns. Wir reden viel zu viel von uns selbst, wo wir waren, als die Mauer fiel und all das. Wen wir fragen sollten, sind die Juden, Moslems und Atheisten, die Italiener, Türken, Griechen, die Homosexuellen, Behinderten und anderen Minderheiten. Wie haben die sich gefühlt, als die Mauer fiel, verstehst du?“
Schwester Anita sah mich an, geknickt, aber sie hörte mir zu.
„Jeder Jude, der heute wieder hier lebt gibt mir Hoffnung. Sie müssen wir feiern, und feiern lassen. Oder jeden Fussballer, der sich outet und nichts zu befürchten hat. Ohne die, die unter den Nazis Opfer waren, kann man nicht von Einheit sprechen.“
„Das klingt erstmal ungewohnt“, sagte Schwester Anita. „Sehr ungewohnt. Komisch.“
„11. November 11 Uhr 11 komisch?“
„Nein, du Idiot, ich meine ungewohnt wie in …“ Sie machte eine Pause, als könnte ich ihr gleich wieder ins Wort fallen, aber stattdessen beherrschte ich mich und schwieg. Ich war sogar zum ersten Mal seit langem wirklich gespannt darauf, was sie sagen würde. „Schön. Das ist ein schöner Gedanke. Gefällt mir.“ Sie lächelte.
Ich war baff.
„Was denn?“
„Nichts, ich freue mich, dass du dich mit dieser Vorstellung anfreunden kannst.“ Das tat ich wirklich.
Sie lächelte mich weiter an, dass es mir beinahe unangenehm wurde. „Schreib nur, schreib.“
„Ich dreh jetzt erstmal meine Runde.“
Anita wirkte erleichtert, und ich auch. Eigentlich hatte ich befürchtet, dass das in einen Streit ausarten, der in ein halbes Jahr Schweigen münden würde, in dem man nur einsilbig miteinander kommuniziert, bis alle um uns herum völlig entnervt sind, und uns von der Klinikleitung mit Rauswurf oder Zwangsurlaub gedroht wird. Aber nein, wir waren uns tatsächlich einmal über etwas einig geworden.
Erst recht so kurz nach Halle war mir heute einfach nicht nach 30 Jahre Mauerfall zumute. Unmöglich. Es war jetzt gerade mal einen Monat her, und damit ist es viel zu sehr dem heutigen Datum nahe, an dem wir als Volk ohne jeden Zweifel den letzten Rest Unschuld verloren haben. Ab da wussten alle wie der Hase läuft. Warum stehen denn heute noch keine Lichterketten schützend vor den Synagogen? Nicht vereinzelt, sondern als breite Bewegung, wie damals, Anfang der 90er? Reicht die Eskalation noch nicht? Auf was warten wir eigentlich, dass das von alleine weg geht? Ich fürchte mich heute, konkret in dieser Nacht vor Nachahmungstätern, und bin nicht einmal Jude. Wie viele werden heute Nacht kein Auge zu tun? Wie viele Koffer sind schon gepackt, nur „für den Fall“?