Lothar war der erste aus der Familie, der es direkt aufs Gymnasium schaffte. Lukas war ja von der Hauptschule gekommen und dann noch einmal sitzen geblieben. Er war schon immer stolz auf seinen jüngeren Bruder gewesen und umsorgte ihn sehr. Das bekamen wir nie so mit, weil er grundsätzlich nichts von Daheim erzählen wollte, obwohl er selten, aber eben doch regelmäßig hin fuhr. Er schämte sich für seine Eltern, und wir bohrten da nicht nach. Brachte er doch mal etwas über die Lippen, hatte es mit Lothar zu tun. Er hätte alles für ihn getan. Das ging so weit, dass er bei seiner eigenen Musterung für ihn geschwiegen hat. Denn zum Bund wollte er nicht ansatzweise, aber wenn er ging, dann würde Lothar als dritter Bruder nicht mehr müssen. Also nahm er dieses eine Jahr auf sich, was dann ihn seine langen Haare kostete. Damit war ich der Letzte, der seine noch hatte, und daran hat sich bis heute nichts geändert, außer dass sie dünner und spärlicher geworden sind.
Ach, die Musterung. Da waren wir noch zu dritt langhaarig gewesen. Auf dem Weg zum Kreiswehrersatzamt in Deggendorf, hatten wir noch im Bus gescherzt, dass sie uns dort die Köpfe rasieren würden. Sie karrten unseren ganzen Jahrgang auf einmal hin. Schuljahrgang, wohlgemerkt, was wohl bürokratischer einfacher zu bewerkstelligen war, als nach Geburtsjahr vor zu gehen. So ging die Schulpflicht mit der Wehrpflicht Hand in Hand. Was machten eigentlich die Mädchen an dem Tag? Hatten die frei, oder Unterricht? Ich weiß es nicht mehr.
Was ich noch weiß ist, dass jemand die Legende vom Apfelsaft anstelle der Urinprobe erzählte, ein anderer prahlte, gestern Gras geraucht zu haben um als Drogensüchtig ausgemustert zu werden, und war tatsächlich noch immer ein bisschen Grün um die Nase. Daniel auch, aber nur wegen der schaukelnden Busfahrt. Der Nächste wollte versuchen auf einen Zuckerwürfel zu pinkeln, um als Diabetiker drumherum zu kommen, und so weiter. Das einzige, was diesbezüglich auch tatsächlich funktioniert hat, waren ärztliche Atteste, die zuverlässig und ausschließlich Arztsöhne bei sich hatten.
Wir freuten uns auch so über den schulfreien Tag, auch wenn wir dafür früher raus mussten, als zur Schule. In Deggendorf war dann alles ein wenig langweiliger als erwartet, anderes aber genau wie befürchtet, man musste tatsächlich vor einem Arzt die Hosen runter lassen und mal husten. Mit im Zimmer saß eine gelangweilte Krankenschwester, die protokollierte, was der greise Arzt über einen blubberte. Daniel und Lukas klatschten einander hinterher ab, weil er zu beiden „linke Schulter hängt“ gesagt hatte. Die Spuren der Gitarrengurte reichten aber leider nicht als Ausmusterungsgrund, und so durften wir uns die Waffengattungen sogar aussuchen, bis wir sagten, dass sie uns damit mal könnten. So hatten wir es gemeint, aber nicht zu formulieren getraut. Daniel fragten sie in einem letzten verzweifelten Versuch ihn zu bekehren noch, ob sein Queensrÿche- Anhänger nicht ein Wurfstern sei, aber vergeblich. Wir verweigerten. Daniel und ich den Wehrdienst, Lukas uns gegenüber die Aussage. Er druckste herum, wirkte aber bedrückt. Wir dachten allerdings, dass das mit der Krankenschwester beim was Husten zu tun gehabt haben müsste, und dann haben wir es vergessen. Bis wir es 1992 auf die harte Tour erfuhren.