Wenn der Doktor hingegen gleich die Polizei verständigen sollte, hätte ich geantwortet, dass er noch einen Sizilianer mitbringen soll, weil der in der Ambulanz defekt sei. Bis ich dann den Eltern erklärt habe, dass das keine Anspielung auf ein Pferd sei, sondern auf den Erfinder der Blutdruck-Armmanschette Scipione Riva-Rocci, stand schon eine Streife vor der Klinik. Diese Sache stank zwar zum Himmel, aber ich bin mir sicher sie lassen das Kind hier, und wir werden versuchen, dass auch die Mutter bleibt. Ohne Eskalation. Polizei wäre immer Eskalation, und wenn es nicht sein muss, dann haben wir lieber morgen das Jugendamt auf Station, und vielleicht geht es gleich mit beiden weiter ins Mutterhaus. Wenn da überhaupt ein Platz frei ist. Ich bin sowas von geladen.
Anita hat mich eben danach gefragt, weil ich so lange weg war, der Flurfunk aber längst die Neuigkeiten verbreitet hatte. Ich meinte es bestehe kein Zweifel, die Ränder an den Unterschenkeln sind eindeutig. Und ich würde drauf wetten, dass die Mutter unter dem langärmligen, eng anliegenden Unterhemd selber Brandspuren auf der Haut trägt. Kreisrund und klein. Von denen wird sie zwar behaupten, dass sie sie sich selbst zugefügt hat, aber come on. Da vergeht mir selber die Lust am Rauchen.
Es hat geklappt. Wir waren auf der Hut, aber eingespielt. Der Kleine kam auf unsere Station, und die Mutter wollte erst nicht bleiben. Aber Anita war super, die sagte einfach „Kein Problem, dann bleibt halt der Papa da.“ So schnell würde ich auch gerne mal schalten. Der hielt es natürlich nach zwei Stunden Krankenhaus schon nicht mehr aus sich länger kontrollieren zu müssen, als unbedingt nötig, und hier präsentierte man ihm eine Exit-Strategie auf dem Silbertablett. Entweder die Mutter blieb, oder er.
Ich sprang direkt auf Anita’s Dreh an. „Ach, sie müssen wahrscheinlich morgen früh raus, zur Arbeit?“ Ich sah kurz zu Anita, weil ich mir nicht mehr sicher war, welchen Wochentag wir gerade hatten. War noch gestern oder schon heute? Aber es passte wohl, denn er willigte ein und Anita schrieb ihm noch die Besuchszeiten und die Telefonnummer auf einen Zettel, während ich Mutter und Kind in die entgegengesetzte Richtung führte.
Es ging erstaunlich leicht über die Bühne, aber plötzlich waren wir ihn los, versorgten die beiden Opfer und saßen dann schweigend auf der Station.
„Kannst heute nicht schreiben, was?“, fragte Anita.
Ich nickte.
„Kann ich verstehen. Soll ich mal Schwester Birgit anfunken, ob sie mit dir eine rauchen geht?“
„Die hat heute Dienst? Wusste ich gar nicht.“
„Auf der Eins, ist eingesprungen.“
„Mir ist nicht nach Rauchen zumute, danke.“
Dann schwiegen wir wieder und guckten mir leerem Blick dem neuen Tag entgegen.
© Jens Prausnitz 2022