06. September 2019

An meinen Vater erinnere ich mich kaum. Die erste Erinnerung, die ich an ihn habe, war wie Magie für mein damaliges Ich: Ich war selbst noch Klein, spielte in einer Wiese, und da kam ein Großer, der mir einen Ball von der anderen Seite eines Zauns holte. Da muss ich so zwei Jahre alt gewesen sein, meinte Mutter, und vielleicht erinnere ich mich nur daran, weil sie es mir erzählt hat? So oder so ist es das erste Bild, dass ich beim Wort Vater im Kopf habe. Jemand auf der anderen Seite des Zauns. Mein Ball kam zurück, und der ist schon lange vergessen. Ich könnte nicht sagen, welche Farbe er hatte, wie groß er war, oder wie er sich anfühlte. Aber dieser große Mensch, der diesen Zaun einfach so überwand, das war unerreichbar. Vater und Zaun, das ist alles, was ich habe. Und auch wenn es manchmal weh tut, dass er nie da war, gerade an Geburtstagen, und all den Tagen, wo ich allein mit Mama am Küchentisch saß, so waren die Väter der anderen nichts, womit ich hätte tauschen wollen. Wenn man ihnen überhaupt mal begegnete.

Die Eltern von Lukas habe ich vielleicht dreimal gesehen. Die waren noch mit seinen jüngeren Geschwistern beschäftigt, und er blieb dabei auf der Strecke. Und der von Daniel mischte sich in alles ein, wusste alles besser, war ein fürchterlicher Kontrollfreak.

Als ich älter war begleitete ich Mutter an Elternabenden immer durch die Schule, wartete vor der Tür und hielt mir die Handgelenke vor dem Bauch. Manchmal hörte ich Mutter durch die Tür, wie sie androhte mich dazu zu holen, wenn ihr einer der Lehrer einen Bären aufzubinden versuchte. Es ist ein tolles Gefühl, wenn einem vertraut wird, wenn jemand ohne wenn und aber für einen kämpft. Die anderen Eltern beäugten mich währenddessen wie jemanden, der etwas ausgefressen hatte. Manche der anderen Mütter hatten etwas mitleidiges im Blick, wenn ihre Männer abfällig in meine Richtung nickten. Diese Blicke habe ich nie vergessen, und ich war so froh, als wir endlich von dort weg gezogen sind. Es sind Kleinstadtblicke, ein unlöschbares Überwachungsregister, das kein Gerücht vergisst, immer alles besser wusste, ohne je nachgefragt zu haben, und sich zur Not alles aus Bruchstücken selbst zusammen reimte. Eine Dorf-Stasi eben.

Auch damals ist mir schon aufgefallen, wie wenige Väter sich dort blicken ließen. Also im Vergleich zu den Müttern. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann waren das sogar die Momente, wo Väter noch am sichtbarsten waren. Besuchte man jemanden zu Hause, dann waren Väter noch in der Arbeit, oder hinter Türen, wo sie nicht gestört werden durften. Dabei war ich immer neugierig auf einen Blick in Familien, wo es einen Vater gab, und sehr enttäuscht, doch wieder keinen gesehen zu haben. Als hätten sich alle gegen mich verschworen. Oder war das alles so verabredet, dass sie sich nicht zeigten, damit ich sie niemandem heimlich stehlen konnte? So etwas wie Angst hatten sie ja tatsächlich immer im Blick, aber es war nicht die davor, ich könnte ihnen etwas weg nehmen, sondern die davor, etwas falsch zu machen. Immer diese Angst vor dem Versagen in den Augen der Väter. Für sie war die geschlossene Tür schon so etwas wie eine Erleichterung. Einmal nicht gesehen werden, unbeobachtet sein. Vielleicht bin ich mit dem Zaun sogar besser dran, als viele andere, die nur vor einer geschlossenen Tür standen. Ich konnte durch die Latten problemlos hindurch sehen, und musste nicht heimlich durch’s Schlüsselloch spähen, um zu sehen, was die eigenen Väter so trieben. Was machen die eigentlich die ganze Zeit, wenn sie allein sind? Womöglich gab es darin nie mehr zu sehen, als leere Zimmer, und die Väter standen dort mit dem Rücken zur Wand, vor allen Blicken versteckt. Waren sie es, die noch größere Angst vor ihren Kindern hatten? Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß ist, dass wir nie so werden wollten, wie sie.

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