Ich taumelte in die Wohnung zurück, ohne dass ich der Tür genug Schwung mitgab, damit sie ins Schloss fallen könnte, und riß den Umschlag auf. Tatsächlich. Ein Brief von Nadine. An mich! Na ja, eigentlich an uns alle: „Johann, es ist schlimm so ins Leere zu schreiben. Ich habe inzwischen auch versucht dich im Lager anzurufen, aber das gibt es ja nicht mehr.“ So fing er an, und ich stolperte nicht einmal über das Wörtchen „auch“. Woher wusste sie, dass es das Lager nicht mehr gab? Ach so, das hatte man ihr wohl am Telefon gesagt. Stand ja auch da, ich Esel.
Dann weiter: „Bei der Telefonauskunft habe ich das gleiche Problem, wie bei den Briefen: ich weiß deinen Nachnamen nicht!“ Woher auch? Hätte ich mich ihr nur damals so formal vorgestellt wie ihr Vater sich dem alten Speck, aber was weiß oder wußte ich jemals über korrekte gesellschaftliche Gepflogenheiten? Andererseits war es gut, denn wenn sie nur mit einem Ohr hingehört hätte, dann wäre aus Mayr schnell Meier geworden, und davon lebten mindestens noch zwei in der gleichen Straße, und dann hätte ich ihren Brief nie bekommen.
„Hoffentlich gelingt es jetzt im dritten Anlauf über die Tankstelle, sonst weiß ich wirklich nicht mehr weiter.“ Ah, das hat doch prima geklappt. Moment, wie, dritter Anlauf? Ich hielt die Luft an.
Verdammt, die war viel zu schlau für uns Bauerntrampel, und um Lichtjahre voraus. Wir waren gerade mal auf die Idee gekommen, das Daniel von Zuhause weglaufen musste, da hatte sie schon eine neutrale Postadresse, unter der wir sie erreichen konnten. An der Gesamtschule Gießen-Ost, bei der Schülerzeitung? Was zum… ich verstand nur Bahnhof. Da war ich ja auch nur dumm rumgestanden. Sprichwörtlich. Und dann kam der Satz, der mich zerstörte: „Sag Daniel bitte, dass ich ihn liebe.“ Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Nur weil er an mich adressiert war? Es stand ja auch was darüber drin, dass sie uns vermisste, doch war das wahrscheinlich mehr der Höflichkeit geschuldet. Augen hatte sie nur für Daniel gehabt, und selbst wenn sie mit uns gesprochen hatte, sehnte sie sich nach ihm. Es war der letzte Satz vor ihrem Namen, dazwischen war kein Platz mehr für mich und Lukas.
„Man muss Tee ja nicht selbst trinken, wenn man ihn nicht mag.“ Schwester Anita sprach beschwörend in ihre Tasse, wie zu sich selbst, meinte damit aber eindeutig mich. „Ich mag ihn. Wenn du keinen möchtest, dann kannst du mir das sagen.“
„Weiß ich doch. Wür… werde ich so machen. Ich schwör.“
Das schien sie nicht wirklich zu besänftigen, aber ich kann mich nicht um alles kümmern und hab jetzt wirklich andere Sorgen. Auch nur über den Brief zu schreiben tut noch immer genauso weh, wie damals. Ich kann ihn ja sogar noch auswendig. Wort für Wort.
© Jens Prausnitz 2022