05. November 2019 – Nachtschicht

„Wo ist denn der A341 Tournee abgeblieben?“, wollte Daniel von Lukas wissen.
Ich verstand kein Wort und dachte nur „Der was?“ Wovon redete er bloß? Von der A3 bei Passau, oder was? Aber Lukas wusste Bescheid.
„Den hob i ausbaut, weil er koa Kassetten ned spuid.“
Es ging um das Radio, das im Auto war, und über das sie geredet hatten, mit Nadja, also Nadine. Wie man eben über jeden Scheiß redet, wenn man nicht weiß wie man ein Gespräch anfangen soll, und Nadine kannte sich damit deutlich besser aus. Wusste zum Beispiel, wie man die Sender einstellt, und so taute das Eis zwischen den dreien auf. Natürlich wusste ich nichts davon. Aber Daniel hatte sich jedes Detail eingeprägt, wie Lukas ja auch. Er hat Recht behalten. Dieser Innenraum war alles, was ihm von Nadine geblieben war, und es brach mir das Herz ihn so zu sehen. Und dann auch noch die kurzen Haare!

Wir fuhren in den Wald über einen holprigen Weg bis zu einer Lichtung. Lukas muss schon einmal dort gewesen sein, denn er fuhr wie aus dem Gedächtnis. Oder waren sie zu dritt einmal dort gewesen? Ehe ich fragen konnte, stiegen wir aus und kaum hatte Daniel das Auto verlassen, rastete er wieder aus. Er schrie den Waldboden an, die Bäume, den Mond, uns, die ganze Welt. „Ich halte es hier nicht mehr aus! Versteht ihr?“
Es war eine rhetorische Frage, aber wir nickten trotzdem und sahen zu Boden.
„Nichts bewegt sich, nicht einmal hier im Wald, alles ist still, tot! Alles hier schreit Tod! Ein gottverdammter Friedhof!“
Lukas wollte was erwidern, aber ich hielt ihn davon ab. Daniel nahm einen abgebrochenen Ast vom Boden auf und drosch ihn gegen den erstbesten Baum. Dabei schrie er seine Wut und Trauer heraus, dass wir selber schlucken mussten, denn er hatte ja recht. Mit allem.
Keuchend kam Daniel langsam zur Ruhe, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Habt ihr herausgefunden, wo sie jetzt ist?“
Betreten in den Wald starrend schüttelten wir die Köpfe.
„Ich hab im Lager gefragt, aber die Zettel waren schon weg, zusammen mit den Kolleginnen von der Erstaufnahmestelle“, erklärte ich zum gefühlt hundertsten Mal. Nicht weil Daniel so oft gefragt hatte, sondern weil ich den Satz im Kopf schon so oft geübt hatte. „Es ging alles zu schnell, Daniel.“
Da wünscht man sich jahrelang, dass mal etwas passieren möge, aber wenn sich dann die Ereignisse tatsächlich überschlagen, man nicht mehr hinterher kommt mit dem verstehen und begreifen, dann ist es auch wieder nicht richtig. Seitdem macht mich zu hohe Geschwindigkeit mißtrauisch.
Der langsame Rhythmus der Provinz bringt auch etwas ans Licht, das man sonst übersieht. Ein Gleichgewicht vielleicht, Ausgewogenheit. Ist ja auch beim Musik machen so. Alle wollen schnell spielen, bevor sie sauber spielen. Dabei führt der einzige Weg dorthin über Verlangsamung. Langsamkeit muss man aushalten können. Langeweile auch. In allem. Nicht stets neue Attraktionen suchen, sondern umgekehrt die Abwesenheit von allem aushalten können. Das ist etwas, das Vilshofen leisten konnte. Es brachte einen zum Stillstand. Daniel hingegen zum Herzstillstand.
Alles war so schnell gegangen, bei uns, und wieder vorbei, ehe es anderswo erst richtig los ging. In Leipzig etwa. Da waren die Dinge langsamer in Bewegung geraten, nahmen Fahrt auf, und waren jetzt nicht mehr aufzuhalten. Bei uns verlief wieder alles in alten Bahnen, als sei nichts gewesen. Ich bin vielleicht ein bisschen langsam, und die beiden neckten mich deswegen immer, aber das ging jetzt sogar mir alles zu langsam.
Lukas und ich saßen wieder sehr vorsichtig auf dem Dach von Monika, und bewegten uns so vorsichtig es ging, um ja keine Beule hinein zu machen. Genauso, wie wir auch jedes Wort abwogen, bevor wir es Daniel gegenüber aussprachen. Betrübt knabberten wir unsere Salzstangen, tranken Dosenbier und guckten in die Sterne.

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