Das letzte woran ich mich erinnere ist, wie er uns in den Tagen zuvor noch ins Gewissen zu reden versucht hatte. Wir verfolgten zwar die Entwicklung mit den anhaltenden Protesten in der DDR und den Versuchen von Krenz und Co. ihre Bevölkerung mit ersten Zugeständnissen wieder in den Griff zu bekommen, aber wir dachten nicht weiter darüber nach.
„Ihr seid so jung…“, lächelte Talmüller. „Was fangt ihr mit dem 17. Juni an? Ich weiß noch, wo ich am 17. Juni 1953 war. Oder am 21. August 1968. Oder im Oktober und November 1956. Das war halt alles vor eurer Zeit, und deswegen haltet ihr euch für unverwundbar.“
Es war still geworden in der Klasse. Schultern zuckten. Gelangweilte Blicke wanderten gen Himmel vor dem Fenster.
„Wisst ihr was diese Zeiten miteinander gemeinsam hatten? Über Demonstranten rollende Panzer. In der DDR, in der Tschechoslowakei, in Ungarn. Was lässt euch so sicher sein, dass das diesmal nicht wieder passiert? Weil Honecker seinen Stuhl geräumt hat? Nein, weil ihr nicht dabei wart, als etwas aus dem Ruder lief. Weil ihr es nicht selber erlebt habt.“ Seine Stimme bebte und er verstummte.
Nach einem quälend langen Moment fragte Anne leise in die Stille: „Aber ist das denn schlecht?“
Talmüller riß die Frage aus seinen trüben Gedanken. Er legte den Kopf schief, lächelte schließlich dabei und schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Vergesst was ich gesagt habe. Gerade dafür braucht es euch jungen Leute, dass ihr euch eben nicht an alles erinnert und die Füße nicht länger still haltet. Ihr habt euch schon viel zu lang von uns Alten angehört, was geht und was angeblich nicht. Ich wünsche euch alles Glück der Welt. Mehr als wir hatten. Nur verlasst euch nicht darauf.“
Die Füße nicht still halten. Es war komisch, das ausgerechnet in der Schule zu hören. Das war doch die Definition von Schule. Alles auszusitzen. War Talmüller’s letzter Rat an uns etwa gewesen, die Schule zu schwänzen?
Von seinem Tod erfuhren wir es erst durch Goldhammer, als die Schule im Januar wieder anfing. Aus irgendeinem Grund hatte sich diese Nachricht nicht von Haus zu Haus verbreitet. Es stand wohl in der Zeitung, aber wir erfuhren es nicht. Talmüller lag schon unter der Erde, als wir von seinem Ableben erfuhren. Und das sich Goldhammer vorübergehend unserer Abiturklasse annehmen würde, gab mir den Rest.
Alles zusammengenommen führte dazu, dass ich es nicht mehr länger dort an der Schule oder auch nur in Vilshofen aushielt, und Mama hörte mir zu. Als sie dann ja sagte, oder eigentlich nur nickte, und wie sie mich dabei ansah, da brachen bei mir alle Dämme. Ich hatte geheult, wie noch nie in meinem Leben. Über Nadine, Daniel, Lukas, Talmüller, die Kindheit und Jugend, die Schule, die Flüchtlinge, den Mauerfall, über alles. Aber Vilshofen oder Deutschland weinte ich keine Träne nach.
In jenem Moment begann auch für mich endlich ein neues Leben.
© Jens Prausnitz 2022