01. Dezember 2019 – Frühschicht

Die DDR blieb weiter ein blinder Fleck für uns. Hier hatte niemand Verwandtschaft „drüben“. Oder würde es nicht zugeben, ich glaube manchen wäre das peinlich gewesen, warum auch immer. Mir wurde diese Möglichkeit auch selbst erst bewusst, als Uwe von seiner Tante dort erzählte. Das die deutsche Teilung auch Familien auseinandergerissen hatte, war mir trotz Kehrpaketen nicht in den Sinn gekommen. Was auf der anderen Seite der Mauer geschah, blieb auch dort. Das war zu weit weg. Wie Sibirien. Irgendwie schon Teil der Sowjetunion, aber gefühlt unbewohnt. Kalte, endlose, weiße Weite, eine unbeschriftete Karte, unberührte Natur: so stellte ich mir die DDR vor. Die waren uns sogar so ähnlich, dass die internationalen Reporter uns nicht auseinander halten konnten. Für sie klangen wir gleich und sahen genauso aus. In ihrem Blick waren wir alle Deutsche. Als hätte uns jemand beiläufig über dem Frühstück eröffnet, dass wir ein unbekanntes Geschwisterkind hätten, in unserem Alter, und jetzt spielt mal schön. Man lässt sich darauf ein, staunend, ist zunehmend begeistert, öffnet sich und fühlt sich zum ersten mal nicht mehr allein, und im nächsten Moment ist alles wieder weg, wie ein schöner Traum, aus dem man zu früh aufwacht. Alles war mir wieder hoch gekommen, das von allen beäugt werden, zu jeder Sekunde, keinen Moment Ruhe zu haben. Jetzt war es nicht mehr auszuhalten. Ich wollte schreien und biss die Zähne so sehr zusammen, dass mir abends der Kiefer weh tat. Mama wachte manchmal sogar von meinem Zähneknirschen auf, so laut war es. Sie machte sich zunehmend Sorgen um mich.
Aber ich war nicht der einzige gewesen, der unter der Dauerbeobachtung und der Leere litt, die Daniel hinterlassen hatte. Sein leerer Stuhl war eine schreckliche Lücke, wie ein Holzkreuz für einen im Gefecht gefallenen Kameraden. Wie nahe es auch Lukas ging, merkte ich erst, als sich Hubert im Deutschunterricht frech auf Daniel’s Fensterplatz setzte, als sei das das normalste der Welt gewesen.
Lukas war aufgestanden und baute sich drohend vor der Bank auf. “Mach, das du da weg kummst“, zischte er.
“Wenn Daniel kommt, räum ich den Platz“, grinste Hubert provozierend.
“Na, du räumst ihn jetzt. Sofort.” Wenn Lukas beinahe Hochdeutsch sprach, sollte man in Deckung gehen, das wusste ich (bei meiner Mutter ist es ja genau andersrum). Das wusste eigentlich jeder, auch Hubert. Da er keine Anstalten machte aufzustehen, sondern stattdessen auch noch damit anfing seine Sachen auf den Tisch zu drapieren, sprang Lukas halb darauf, bereit sich auf ihn zu stürzen, aber ich und noch jemand hielten ihn zurück. Das darauf folgende Gerangel endete nach einigem hin und her, als Lukas Daniel’s Stuhl aus dem Fenster auf das kiesbedeckte Flachdach warf, und Talmüller in die Klasse kam. Alle setzten sich auf ihre angestammten Plätze, auch Hubert sammelte seine Sachen ein und trollte sich.
Die ganze Stunde nahm Talmüller keinen Bezug auf den Vorfall und fragte auch nicht nach. Erst als er ging murmelte er etwas von man möge doch jetzt bitte Daniel’s Stuhl wieder in die Klasse holen. Er klang leblos und traurig, und es zerriß Lukas und mir das Herz.

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