Dann saß plötzlich doch wieder wer auf seinem Stuhl, ein DDR- Mädel. Die hatte nochmal ihre Kurse geändert, und war deswegen auch öfter anderswo bei mir oder Lukas mit im Unterricht gewesen, aber nicht im Grundkurs Deutsch. Sie war äußerlich kein bisschen wie Nadine, aber erinnerte uns trotzdem an sie. Sie war genauso von drüben, und trat hier mit einem Selbstbewusstsein auf, das sie von uns abhob. Wir gingen ihr beinahe absichtlich aus dem Weg, weil es uns überforderte. Vielleicht auch deswegen, um uns vor ihr nicht versehentlich zu verplappern, dass wir sehr wohl wussten mit wem Daniel’s Flucht in Wahrheit zusammen hing.
Es hat endlos lange gedauert, bis sich Nadine und Daniel überhaupt bei uns gemeldet haben. Wir hatten vergessen das vorher zu besprechen, und jetzt fehlte uns die Phantasie wie das überhaupt vonstattengehen sollte. Als sich Daniel dann endlich meldete, geschah es so unkompliziert wie es nur zu erwarten gewesen war: Er rief aus einer Telefonzelle an. Ich bekam immer noch bei jedem Klingeln einen halben Herzinfarkt, seit Nadine angerufen hatte, obwohl mir klar war, dass das so schnell nicht wieder passieren würde. Aber die Hoffnung hatte ich längst aufgegeben, nur um dann doch wieder überrascht zu werden. Ich nahm den Hörer ab und sagte automatsich „Bei Mayr“, wie sonst auch. Im Hörer stöhnte es, dann sagte eine vertraute Stimme „Entschuldigung, verwählt. Alles gut“, und hängte auf ehe ich etwas erwidern konnte.
„Was zum?“ Ich sah den Hörer vorwurfsvoll an. Daniel würde mir später erklären, dass das so kurz war, für den Fall dass das Telefonat zurück verfolgt werden sollte.
Nadja hatte ihm zwar gesagt, dass er nur darauf achten brauche, ob es zwei Mal in der Leitung knackt, denn so sei das bei der Stasi. Aber Daniel war so nervös wegen der Sache, dass er kein Risiko eingehen wollte. Selbstverständlich ohne zu wissen, worin es überhaupt bestehen könnte. Dieses Lebenszeichen war sehr unbefriedigend, um es milde auszudrücken. Es war zu wenig und änderte überhaupt nichts. Ich glaube, dass ich heimlich damit gerechnet hatte, dass nun unsere eigene Flucht bevor stand, und sie uns den weiteren Plan mitteilten, aber da kam nichts mehr. Wir waren auf uns gestellt.
Dass sie uns nicht schreiben würden war klar, nachdem die Specks ihre Postkarte bekamen. Die gab uns aber immerhin die Steilvorlage, vor den Augen der Polizei eine Szene zu machen und große Erleichterung zu spielen – denn es war ja für uns genauso das erste offizielle Lebenszeichen von Daniel, wie für seine Eltern. Danach hatten wir dann auch erstmal Ruhe. Das muss kurz vor den Weihnachtsferien 1989 gewesen sein.
Ein schlechtes Gewissen hatte ich allerdings Herrn Talmüller gegenüber, dass wir ihm nicht sagen konnten, dass es Daniel gut ging, und er sich keine Sorgen machen müsste. Aber Lukas hat schon damals richtig vermutet, dass ihn die Versicherung von uns beiden wohl in keinster Weise beruhigt hätte. Vielleicht hätte es sein Leben verlängert, aber er starb während der Weihnachtsferien, allein in seiner Wohnung.