Die Kassette ist aufgenommen! Es hat sich stundenlang hingezogen, und Dr. Heßler fing an langsam die Geduld mit mir zu verlieren. Vor allem verstand er nicht, weshalb ich so einen Aufstand machte, wenn das Ende einer Seite ein Lied abschnitt, und ich eins suchte, das passte, selbst wenn das hieß das vorletzte auch noch austauschen zu müssen. „Everyday glory“ musste außerdem das allerletzte Stück sein, als Hoffnungsschimmer am Anfang einer Pandemie, was zu „Stau“ davor führte.
Schwierig war es einzelne Titel ausfindig zu machen, die ich nur von seinen Tapes kannte. Daniel hätte ihm die Melodien nach Gehör vorspielen können, ich versuchte es mit pfeifen. Heßler’s Augenbrauen wanderten bei jedem meiner Anläufe ein bisschen weiter aufeinander zu.
„Lass das lieber“, meinte er nach einer weiteren Flötkonzert meinerseits. „Du klingst wie das Überdruckventil von einem Schnellkochtopf, und dein Kopf ist auch schon ganz rot.“
„Ich könnte es dir auf den leeren Bierdosen vortrommeln“, japste ich, aber er schüttelte den Kopf und ich spulte weiter auf den Kassetten herum.
Ein Wink des Himmels war aber, dass er eine polnische Blues-Platte in seiner Sammlung hatte, davon packte ich gleich was mit drauf. Das ist jetzt das Tüpfelchen auf dem „Z“. Weiß der Geier, was der da singt, aber es klingt ehrlich, von Herzen kommend – und es passte mit unter dreieinhalb Minuten genau ans Ende der A-Seite.
Morgen habe ich Geburtstag. 49 Jahre. Fast ein halbes Jahrhundert. Komisch. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich dabei wieder an meinen Vater denke. Na ja, am Vatertag jetzt sicher nicht sooo überraschend, aber seit ich letztes Jahr so viel über ihn aufgeschrieben habe, bin ich ja selber einer geworden.
Nein, da knabbert noch etwas anderes an mir, weil ich selbst keinen Deut besser bin. Ich war genauso wenig für meine Kinder da, wie er für mich. Ein bisschen mehr vielleicht, hier und da, aber nicht wie Daniel. Und das nur, weil ich zu doof gewesen bin, um das Offensichtliche zu sehen. All die Jahre … Die Dummheit habe ich auf jeden Fall von ihm geerbt. Die Kurzsichtigkeit ja auch, sagt Mama. Kein Einspruch. Bei beidem.
Ich bin kein bisschen besser, als er. Höchstens anders scheiße, aber genauso ein Versager. Daran denke ich heute, und ich würde so gerne alles wieder gut machen. Nur wie? Die Pandemie macht es schwerer als sowieso schon.