Komisch, so während einer ganzen Nachtschicht überhaupt nichts geschrieben zu haben, außer Notizen. Noch merkwürdiger ist eigentlich nur, dass ich sie direkt ins Notizbuch geschrieben habe. Denn obwohl ich mich mit Schwester Anita versöhnt habe, konnte ich mich nicht dazu überwinden das Tablet mitzunehmen. Stattdessen eben das Notizbuch, das sie natürlich sofort erkannt hat – ich habe es ja ausführlich beschrieben –, aber sie hat keinerlei Anstalten gemacht hinein zu sehen. Andererseits: Was weiß ich schon.
So habe ich es jedenfalls vermieden ständig Verse von Zetteln in das Notizbuch übertragen zu müssen. Es fühlt sich schon so an, als hätte ich deswegen einen unnötig gefällten Baum auf dem Gewissen. Warum also nicht ausnahmsweise mal gleich reinschreiben?
Irgendwie schien Schwester Anita sich zu langweilen, oder auf etwas zu warten, und deswegen habe ich ausnahmsweise ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert. Von der Versöhnung, meiner Problematik mit der verstreuten Familie, und was ich darüber denke. Es ärgerte mich zwar zu registrieren, wie sehr sie sich darüber freute, aber ich tat einfach so, als würde ich es nicht merken. Und ich war ja wirklich ratlos. Sollte ich denn etwa Adressenlisten herumschicken? Dabei hatte ich nicht einmal alle. Besser wäre es doch, alle an einen Ort zusammen bringen? Wer weiß, wie lange das bei der Pandemie überhaupt noch möglich ist. Vielleicht sperren sie uns auch noch alle richtig ein, wie in China. Wir hatten ja keinen richtigen Lockdown, wir durften raus. Mal sehen, was der gebügelte R-Wert bringt, an dem wir uns jetzt auch noch orientieren dürfen.
Dann war Feierabend und ich wollte nur noch schlafen.
War heute wieder mit Dr. Heßler verabredet. Damit unser Spaziergang nicht erneut ins Wasser fiel, verabredeten wir uns an der Salvatorstraße, um vom Ludwigspark aus ein bisschen unten am Lousberg herum zu laufen. Das würde uns Zeit sparen. Außerdem konnte ich etwas Mülltrennung betreiben, indem ich unterwegs ein biologisches Spaltprodukt einsammelte und anschließend in einer Altpapiertüte dort bei den „Jungs“ im Briefkasten deponieren.
Auf seinen fragenden Blick sagte ich: „Diese bei-den-Nazis-war-ja- nicht-alles-schlecht-Sager machen mich fertig.“
„Davor haben sie gesagt, dass die Ideen des Nationalsozialismus ja nicht verkehrt waren, sondern nur nicht richtig umgesetzt“, sagte Heßler mit einem Schulterzucken.
„Nicht richtig umgesetzt? Wie, weil sie nicht alle Juden, Randgruppen und politische Gegner ermordet haben, oder was?“
„Oh, das konnten die schon immer mühelos ausblenden. Dass das dazu gehört, meinen sie ja mit dem ‚nicht richtig‘“, sagte er grimmig.
„Dann weil man sie dabei erwischt hat, nehme ich an. Oder hatten die Nazis etwa ganz tolle Reformpläne in der Schublade und der Holocaust kam ihnen quasi nur in die Quere?“