26.06.20

Ich denke immer noch über die Schulklassen nach, denn wie von selbst scheint sich ein Gefüge mit klarer Rollenverteilung zu ergeben; da ist der Schleimer, die Nervensäge, der Streber, die Künstlerin, der Musiker, die Schöne, der Außenseiter, das tiefe Wasser, die Einfühlsame, das Opfer und wechselnde Täter, die Sportskanone, das Mathegenie, der Klassenclown, und immer so weiter. Manche sind wie Archetypen, die hast du immer doppelt, und andere sind einzigartig. Aber waren wir schon immer so, oder zwingt uns nur die Situation diese Rollen auf? Über die Jahre zementiert sich dabei so manches, das unter anderen Umständen noch aufgeweicht werden könnte. Manche fügen sich ihrer Rolle und sie wird ihnen zur zweiten Haut. Auf Klassentreffen Jahrzehnte später bricht es sich oft wieder Bahn, als wäre kein Tag vergangen, als säße man selbst wieder in der Schule, und nicht nur die eigenen Kinder.
Vielleicht ist es das, was mir diese Träume sagen wollen. Welche Rolle hatte ich in der Schule? Und was ziehe ich nur an? Es sieht nach einem heißen Tag aus, aber ich mag keine kurze Hose anziehen. In einer Jeans wird mir zu warm, aber die weiße Flanellhose schreit förmlich danach, dass ich mir auf der Busfahrt zu ihr Flecken einfange. Außerdem wollte ich ein Hemd anziehen, aber weiß auf weiß … bloß nicht. Das hellblaue Leinenhemd war toll, aber wenn ich darin schwitzte … nein. Aber das dunkelblaue? Da bekomme ich bestimmt einen roten Kopf. Blau und rot, geht das gut zusammen? Wenn ich noch sehr viel länger nachdenke, muss ich in der Schlafanzugshose los. Eingecremt, Maske auf, los.

Im Bus fühlte es sich an wie in einer Sauna auf Rädern, statt Aufguss gab es an jeder Haltestelle neue dampfende Körper, die zustiegen. Ich musste daran denken, wie mir Lukas erzählt hat, dass die Schulbusse in Niederbayern die reinsten Kotzmaschinen gewesen waren, wenn sie ihn von Vilshofen nach Eging zurück brachten. Man kroch darin die Hügel hinauf, der Motor ächzte, das Getriebe krachte, Dieseldämpfe waberten von Sitz zu Sitz, und es kurvte nach links und rechts, wie in einer Achterbahn, nur halt in Zeitlupe und bei geschlossenem Verdeck. Trost spendete da nur ein Walkman, oder das Autoradio, wenn der Fahrer sich bequatschen ließ es an zu machen. Manchmal spielte er am Freitag Nachmittag wohl gnädigerweise die Charts.
Beinahe hätte ich den Ausstieg versäumt, weil mein Hemd mit dem Sitz verschmolzen war, und ich beim Slalom nach draußen niemanden berühren wollte. Dann war ich endlich draußen, nahm die Maske ab und inspizierte meine Hose. Noch immer weiß, wie meine Maske. Schön. Mit meinem besten Gewinnerlächeln – das man nicht sehen konnte – setzte ich meine Sonnenbrille auf und sah aus wie ein Allergiker bei seinem ersten Ausflug. Ein herrlicher Tag, und ich freute mich auf Walentyna. Auch dieses Mal bat sie mich nicht zu sich nach oben, sondern kam gleich herunter. Als sie in einem schulterfreien, dunkelgrünen Sommerkleid, aber ohne Maske auf die Straße trat und mir ein Begrüßungsküsschen geben wollte, machte ich einen Schritt zurück.
„Okay“, sagte sie mit einem Seufzer. „Aber Händchen halten wird schwer, wenn wir dabei anderthalb Meter Abstand halten müssen. Nicht, dass ich jetzt noch Lust dazu hätte.“

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