Mit meinen heutigen Augen sehe ich aber viel mehr, einen Bergfilm ohne Schnee und Edelweiß, dafür aber mit blütenweißen Kleidern. Ein Fels voller Spalten, die einen zu verschlingen drohen, die betatscht und bestaunt werden, über die Monster in die Welt gelangen könnten … und vielleicht in Form der Menschen längst sind. Hier blickt uns Mutter Erde aus ihrer Vagina heraus an, wir nehmen kurz ihre Perspektive ein, während diese Gören auf unserer Klitoris herumturnen. Als Kind wäre ich dort genauso herumgeklettert, ohne ein Bewusstsein davon zu haben, dass der Tod überall lauert. Mag sein, dass es symbolisch nur um den kleinen Tod ging, die Entdeckung der eigenen, der weiblichen Sexualität, eine Befreiung von den Zwängen des Internats und der Zeit um die Jahrhundertwende. Plattgepresst wie eine Blume in einer der ersten Einstellungen am Anfang. Eine Emanzipationsgeschichte also, eine sprichwörtliche transzendente Erfahrung. Wie der Monolith aus 2001, nur dass man hier auf ihm herumlaufen kann. Eben traf mich noch eine Erkenntnis: geht nicht von Miranda eine ähnliche „Gefahr“ aus? Sie zieht ebenfalls alle in ihren Bann, wie der Berg sie. Darum hatte ich als Kind ein bisschen Angst vor ihr, weil ihr etwas archaisches innewohnt, dass sich meinem Verständnis entzog, noch immer entzieht, immer entziehen wird, aber die Kraft hat mich zu verschlingen wie die zu Ameisen geschrumpften Menschen am Fuß des Berges. Eine Kraft, deren Macht sie selbst noch nicht begriffen hat, aber die sie bereits intuitiv lenkt. Der Berg ist ihre Himmelfahrt, oder eher das, was sie erdet. Dort ist eine Schwere, die alle zu Boden zieht, und in tiefsten, traumlosen Schlaf sinken lässt, selbst die Uhren. Es ist ein bisschen wie das Neue Testament, nur aus weiblicher Perspektive: Wenn Gott eine Frau wäre und Miranda ihre Tochter, die sie zu uns auf die Erde geschickt hat, um uns … zu verführen? Sie hat sogar ihre eigenen … Jungfern, wo Jesus seine Jünger hatte. Nur ohne den voyeuristischen, qualvollen Tod, Aufstieg statt Auferstehung. Der Film ist eine religiöse, mythische Erfahrung, ein Sprung über den Fluss, wo andere nur gestolpert sind. Ich liebe diesen Film jedes Mal ein bisschen mehr.
Eben überraschte mich Schwester Anita mit einer unerwarteten Frage: „Was, wenn sie bis kurz davor gar nicht wüssten, dass sie zu einem Familientreffen fahren?“
Ich nickte vorsichtig, sagte aber nichts.
Um Himmels Willen, was habe ich da womöglich losgetreten?
© Jens Prausnitz 2023