16.01.20

„Der hätte beinahe ein Kind gefressen, aber das hat ihn mit einem Stuhl erschlagen. Und das sollte dann natürlich in die Zeitung, weil es so eine Sensation war. Bis sich herausstellte, dass der Junge Jude war. Dann stand angeblich in der Zeitung: Feiger Judenbengel erschlägt tapferen, deutschen Löwen.“
„Nicht dein Ernst! Klingt vom Ton her ja wie Springer heute noch.“
Mutter seufzte. „So hat er es erzählt. Ich kann mich wie heute dran erinnern. Aber nicht wegen der Geschichte, sondern weil er überhaupt etwas erzählt hat. Sonst hieß es immer: dafür bist du zu jung, oder das muss man erlebt haben, um es zu verstehen.“
„Da habe ich ihn wohl auf dem rechten Fuß erwischt. Kindgerecht erzählte Nazizeit ist das aber auch nicht gerade. Wenn das alles so albern und durchschaubar war – wieso konnten sich diese Witzfiguren dann trotzdem an der Macht halten? Ich möchte das verstehen können, und das macht es nur noch absurder.“
„Das mag ja sein, aber ich will dass du verstehst, dass das ein ungemein seltener Versuch war überhaupt Worte für diese unvorstellbaren Verbrechen zu finden. Mir gegenüber war da nur Sprachlosigkeit, und das war immerhin ein Versuch. Das ist besser als nichts.“
„Trotzdem irgendwie enttäuschend“, sagte ich geknickt und wir schwiegen in unser Essen. Als wir fertig waren, kam mir noch ein Gedanke. „Was, wenn er so den Moment benennen wollte, an dem man dem Verderben noch hätte begegnen können? Wenn man die Faschisten dann aus den Parlamenten gelacht und den Judenbengel zu recht gefeiert hätte? Wann war das? Wenn es weit vor 33 war, dann käme das doch hin.“
„Ein tröstlicher Gedanke, mein Junge. Danke dir.“ Mama lächelte mich an. „Übrigens, der Fichter fragt jetzt immer nach dir.“
Das hat mir gerade noch gefehlt.
Mutter hat sich dann noch dafür bedankt, dass ich die Nachforschungen angestellt habe, aber ich solle mich nicht darin verlieren und darüber zu leben vergessen. Es sei nicht meine Aufgabe für die Sünden der Großväter zu büßen. Ich glaube aber doch.
Danach gingen wir noch spazieren und mir lag noch immer auf der Seele, dass mir Karin – also die andere Karin, die gar nicht Karin hieß, sondern mich erfolgreich angeschwindelt hatte –, einen Bären aufgebunden hatte.
„Manchmal fürchte ich, dass ich ewig allein bleibe“, sagte ich und bereute es gleich wieder. Aber zu meiner Überraschung erwiderte Mutter erstmal gar nichts, sondern wir gingen schweigend nebeneinander her. Mir wurde klar, dass sie nach den richtigen Worten suchte, und damit wuchs in mir eine Anspannung, als würde sie gleich etwas mit Honig sammelnden Insekten illustrieren. Wäre ja selber Schuld gewesen, ich hatte ja mit dem Bären angefangen.

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