Es war eine gute Idee gewesen mir The Handmaid’s Tale auszuleihen. Nicht nur weil es als Schutzschild gegen Schwester Heide funktioniert, sondern weil es das erste Mal ist, dass ich ein Buch bewusst nicht nur in seiner Übersetzung lese. Ein bisschen so, als würde man einen Vortrag im gleichen Raum hören, und nicht mehr durch die Wand aus dem Nebenzimmer lauschen. Auf einem gänzlich anderem Blatt steht natürlich, warum ich gerade lieber vom Leben in einem totalitären Staat lesen möchte, als von der zerfallenden Zivilisation nach einer Pandemie.
„Ich glaube inzwischen verstehe ich, was du da gemacht hast, und ich bin stolz auf dich mein Junge.“ Mama lächelte mich mit Schlagsahneresten auf der Oberlippe an. „Dieses polnische Mädchen tut dir gut.“
„Finde ich auch. Sie ist aber kein Mädchen“, korrigierte ich sie, während wir durch den Park schlenderten und die geschmolzenen Eisreste aus inzwischen aufgeweichten Pappbechern vom Romagna löffelten.
„Für mich sind alle unter 50 Mädchen“, beharrte meine Mutter, tupfte sich den Mund mit der Serviette und warf alles zusammen in den nächsten Mülleimer. „Weißt du, wer mich angerufen hat? Clara!“, sagte sie vor Stolz beinahe platzend.
„Oh, super! Worüber habt ihr denn geredet?“
„Geht dich gar nichts an. Mädchensachen.“ Ich bildete mir ein, sie kichern gehört zu haben, während ich konzentriert in meinem Becher herumkratzte.
„Sie geht heute auf eine Demonstration in Berlin.“
„Ist schon wieder Klimademo?“, fragte ich überrascht.
„Nein, eigentlich ist sie auf der Gegendemo zu den Querdenkern.
Die wollen hunderttausend Demonstranten zusammenbringen, legen sich dafür aber mit allen ins Bett, die nur kommen wollen.“
„Da werden sich die Nazis aber freuen“, kommentierte ich. „Macht sie sich deswegen keine Sorgen, wegen ihrer Schwangerschaft?“
„Junge, sie ist erst im vierten Monat, das ist noch gar nichts.“ „Halbzeit nennen wir das in der Klinik.“
„Es ist noch ohne Medizinball vor dem Bauch“, beharrte Mutter.
„Erst wenn gefühlt jede deiner Bewegungen oder die des Kindes auf die Blase drückt, dann zählt’s.“
Ich sagte besser nichts, sondern entsorgte nun auch meinen Becher. „Junge, es ist so wunderbar eine Enkelin zu haben …“
„Du wusstest doch auch vorher immer was bei ihnen passiert, von mir.“
„Aber da wusste ich nicht, dass es meine Enkel sind.“
„Ja, aber ich auch nicht, dass ich ihr Vater bin. Macht das denn einen Unterschied?“
01.08.20
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