Hab ich damals geschlafen? Oder besser? Keine Ahnung, was weiß ich. Als ich anfing die Schule zu schwänzen und dann doch von keinem Blitz getroffen wurde, habe ich bestimmt besser geschlafen, als vorher. Damals bin ich aufgewacht. Wir sind aufgewacht. So wie Dennis, Clara und die anderen Kinder heute, jeden Freitag. Bei uns hat es erst später geklingelt, da waren wir schon beinahe erwachsen. Wir sind dann auch an den anderen Wochentage nicht zur Schule gegangen, weil wir Goldhammer nicht mehr ausgehalten haben. Und Brückner, und … halt doch irgendwie alle? Das war gar nichts persönliches. Wir konnten sie einfach nicht mehr sehen. Demonstrieren waren wir allerdings nicht, aber etwas damit demonstriert haben wir sehr wohl: Volljährigkeit.
Diejenigen von uns, die schon 18 geworden waren, haben sich ihre Entschuldigungen selber geschrieben, und kamen von da an fast gar nicht wieder. Ich hab mir nicht mal die Mühe machen müssen, obwohl ich ja erst 17 war. Daniel hatte weniger Glück, seine Eltern haben das Gymnasium ultrawichtig genommen. Wohl weil sie selber nie auf einem waren, und trotzdem dem Märchen glaubten, es mache einen Unterschied, ob man später studiert, oder nicht. Warum überschatten so oft die unerfüllten Wünsche der Eltern die ihrer Kinder? Und warum halten sie an ihren utopischen Vorstellungen fest, obwohl der Schulalltag sie widerlegt?
Meine Mutter hatte da keine Illusionen. Wie auch? Alleinerziehend, in den 80er Jahren, in Niederbayern? Da haste nix zu lachen. Darum habe ich in den Sommerferien immer gearbeitet, damit wir uns mal ein bisschen was leisten konnten, oder ein paar Rechnungen mehr bezahlen.
Warum also die Albträume? Wieso kommen die immer wieder? Hab ich etwas vergessen? Ist es wegen des Jahrestages, der ansteht? Der Schulanfang? Der Schulanfang 1989, den ich wissentlich versäumt habe, weil ich lieber Flüchtlingen helfen wollte? Nicht jetzt im fernen Mittelmeer vor dem Ertrinken – wie ich es vielleicht sogar machen würde, wenn ich nicht schon beim Anblick eines halb vollen Glases Wasser Seekrank würde -, sondern damals vor unserer Haustür, mitten in der Stadt, bequem von überall aus zu Fuß erreichbar. Die Journalisten standen bereit, aus Amerika und sogar Japan waren sie angereist, die BBC neben dem ZDF und dann passierte tagelang nichts, das fertig aufgestellte Lager stand leer, und die Presse verloren drumherum. Schon wieder Leere. Immer wieder diese Leere, leere Plätze, verlassene Orte. Leere in den Köpfen, und wieder haben wir nichts aus der Geschichte gelernt.
Dann schreibe ich halt wieder, wie es mir der Therapeut 1987 empfohlen hat. Zuerst fand ich’s doof, aber dann hat es ja doch geholfen. Anfangs finden wir gerne immer alles doof, bis wir dann merken, dass es eben doch funktioniert, wenn man sich Zeit gibt. Anfänge sind immer holprig. Als Babys hat uns das nicht gestört: Wir waren frustriert, wenn wir uns nicht auf den Bauch drehen konnten, oder aus dem geplanten nach vorne Krabbeln ein nach hinten Schieben wurde. Wenn man weiter macht, führt das vielleicht nicht gleich zum gewünschten Ergebnis, oder vielleicht nur auf Umwegen: Dennis stieß vorwärts an ein Regal und Clara rückwärts an eine Wand. Beide konnten sie sich dort irgendwie hochziehen und haben dann diese komischen Kniebeugen gemacht, wie sie nur Babys mit unsicherem Stand beherrschen. Wie eine sehr ungelenke Ballerina an der Stange wackeln sie erstaunt hin und her, verblüfft über die eigene Leistung. Und was jetzt? Bald darauf stehen sie sicher und es folgen erste Schritte und viele von Windeln abgefangene Stürze auf den Allerwertesten. Es gab alles, nur kein Aufgeben. Wo ist der Enthusiasmus hin, der uns allen noch als Baby eigen war? Er wird uns ausgeredet. Bis wir es irgendwann glauben, und etwas in uns stirbt. Dran glauben müssen. Ha ha, ja, genau.
Und was ist in diesem Zimmer 107?
Ok, genug für heute, mir fallen endlich die Augen zu.
© Jens Prausnitz 2022