„Das war in Passau! Du musst drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Wir hatten eine Nachbarin, der gehörte so einer. Die hat mit dir Rotkäppchen gespielt.“
„Ich war Rotkäppchen?“
„Ja, weil du ihr was zu Essen gebracht hast, und sie dafür am Nachmittag auf dich aufgepasst hat.“
„Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern!“
„Tust du doch gerade“, kicherte Mutter. „Eines Tages war der Fuchs weg, und sie war nicht davon abzubringen, dass du dahinter stecken musst.“
„Und, war ich’s?“
„Aus dir war nichts heraus zu bekommen“, sagte Mutter. „Aber man sah dir an, dass du etwas wusstest. Bis du es dann selbst irgendwann vergessen hast.“
„Daran hat sich bis heute nichts geändert, muss ich gestehen.“
„Oh, der Fuchs ist wieder aufgetaucht. Ein Jahr später. Oder was dann noch von ihm übrig war. Das Scharnier und Reste von Zähnen sind in einem Rasenmäher hängen geblieben. Jemand muss ihn dort hinter dem Zaun ausgesetzt haben.“
„Hinter einem Zaun?“
„Ich weiß nicht, wie du dort hingekommen bist, auf die andere Seite und wieder zurück, aber so war es.“
„Wie kannst du sicher sein, dass ich das gewesen bin?“
„Weil es nachträglich dein Verhalten in diesem Winter erklärt hat. Du hast den Schneemännern immer ihre Nase ausgerissen und über den Zaun geworfen.“
„Füchse fressen doch keine Möhren!“
„Erklär das gerne mal einem Vierjährigen.“
Wir lachten. „Ok, ok. Aber das muss mir schwer gefallen sein. Weil ich mich erinnere, dass ich die selber mochte.“
„Wahrscheinlich hast du von dir auf andere geschlossen.“
„Wenn der Fuchs so dünn war wie der von der Frau im Zug, dann konnte er sich nicht aus eigener Kraft auf den Beinen halten.“
Wir verabredeten uns lose für das nächste Jahr zum Frühstück, weil ich Dienst haben würde, und jetzt gehe ich noch spazieren. Mir ist danach einem Schneemann ein Stück der Nase abzubeißen.
© Jens Prausnitz 2022