Lukas war auch froh, dass ich nicht über Silvester bleiben wollte. Da will er mich nicht mehr sehen. Was ich gut verstehen kann. Unser letztes gemeinsam verbrachtes Silvester war das von 1989 auf 1990 gewesen, und da hatte ich ihm gestanden, was ich schon wusste, dass ich mit Mutter wegziehen würde. Geahnt hatte er es natürlich schon, aber es zu hören tat trotzdem weh. Zuvor hatten wir jedes Silvester gemeinsam verbracht, wir drei, und manchmal war auch sein Bruder Markus noch dabei gewesen, der uns im Bus durch die Gegend kutschierte. Ein Silvester zuvor waren wir noch zu viert gewesen, und nur ein Jahr später verließ ihn auch der Letzte, während in Berlin die größte Party stieg.
Von uns war keiner dort, aber einige aus unserer Klasse waren hingefahren. Sie holten dort nach, was wir Monate zuvor erlebt hatten. Die Rollen hatten sich vertauscht, jetzt saßen wir vor dem Fernsehen und guckten zu, wie sich andere in der Armen lagen, und wir nahmen Abschied.
Es sah in den Fernsehbildern nach einem berauschenden Fest aus, und das haben sie bestätigt. Aber eben auch erzählt, was man uns dort nicht gezeigt hat: den von Scherben übersäten Boden. Dazwischen auch heil gebliebene Sekt- und Bierflaschen, auf denen man erst recht ausrutschen konnte. Wer zu dünne Sohlen trug holte sich blutige Zehen, und überall hörte man Sirenen, die nirgendwo durch kamen. Das haben die Fernsehkameras irgendwie versäumt einzufangen, dass unter den Füßen die Träume zu platzen begannen, und darüber explodierten die Raketen.
Seitdem feierte Lukas kein Silvester mehr, um nicht darin unter zu gehen. An ihm konnte man sich festhalten und orientieren. Wie an einer Boje! Er hat eine Verbindung zum Grund, die man nicht sieht, wenn man nur von oben auf den Wasserspiegel guckt. Da sieht man nur die eigene Reflektion, die Wellen, und das er dort scheinbar unbekümmert leicht hin und her tanzt. Etwas hält ihm am Grund, und wenn das Wasser steigt, scheint es so, als würde er ertrinken. Aber dann hält er die Luft an. Und an Silvester hielt er sie eben an, als ich weg ging. Oder als der ranzige Speck ihm die Hucke versohlt hat auch. Er wusste, das ginge vorbei, und dann wäre er immer noch da.
Sein Anker ist kein Lokalpatriotismus, sondern Heimatliebe. Für ihn ist die ganze Region seine Welt, so wie die Gaststube für Geistler. Dort gelten seine ungeschriebenen Gesetze, die man nur an ihm ablesen kann, an seinem Handeln, seiner Anwesenheit dort. Erst mit Lukas ergibt die ganze Gegend einen Sinn.
Hab mit Mutter telefoniert, und mich für die DVD bedankt, und sie sich für den Gutschein. Dann fragte sie natürlich nach Vilshofen.
„Und, wie war’s?“
„Schön. Lukas hat sich kein bisschen verändert, und Sandra ist toll. Sie sind ein tolles Paar.“
„Das freut mich“, sagte Mama.
„Sie haben mich gefragt ob ich Patenonkel für ihr Kind werden möchte.“
„Oho, jetzt wird es spannend. Und?“
„Ich hab zugesagt, ihnen aber auch von Dennis und Clara erzählt.“ „Wie haben sie es aufgenommen?“
„Ganz ok“, seufzte ich, „weil ich ihre Eltern außen vor gelassen habe.“
„Feigling.“
„Mama!“
„Ja, ja, ist ja gut“, beschwichtigte sie. „Und die Stadt?“