28. Dezember 2019 – frei

Siebenundzwanzigster Dezember

Ich wachte etwas früher auf, weil ich fror. Marlene lag zusammengerollt hinter meinen Knien und hatte mich so weit von der Luftmatratze geschubst, dass mir nur ein kleiner Rest Decke geblieben war. Kein Wunder, dass mir kalt war. Gleichzeitig war ich ungemein glücklich. Ich streichelte die Katze, die unter Protest aufwachte, sich dann aber schnurrend etwas zur Seite bugsieren ließ, so dass ich mich auch wieder zudecken konnte. Das war besser als ASMR, aber eine Katze wollte ich deswegen trotzdem nicht. Ich schlief trotzdem nochmal ein.

Sandra war so früh aufgestanden, dass sie mir noch frische Brezen geholt hat. Die Tüte war noch warm, aber ich musste ihr versprechen, dass ich sie erst im Zug anbrechen würde. Wir verabschiedeten uns, und auch wenn ich es mir wahrscheinlich nur eingebildet habe, meine ich, dass ihr Nachwuchs mir von Bauch zu Bauch eine High-Five mitgegeben hat.
„Ich glaub das heißt, dass er mich als Patenonkel akzeptiert“, vermutete ich. „Zwar nur recycelt und alles andere als neu, aber noch hab ich Tüv. Was meint die Mutter?“
„Sie akzeptiert dich als Patenonkel, sie. Und die Mutter auch. Einen Kindskopf mehr oder weniger schafft die auch noch“, lachte sie.
Als mich Lukas dann zum Bahnhof begleitete, wurde er ganz still. „Des hob i no neamd föazöid. Versprich ma, das des nia am Daniel sogst.“
„Versprochen.“
„D’Nadine hod mir damals oan oba ghaut. Woast scho, beim Nacktbadn?“
„Was?!“
„Also ned direkt sie söiba, aba sie had gmoant i soi mi da untn anfassn, damit i mia da ’nichts verkühle’, hod’s gsogt, i schwör.“
Ich konnte mir ein Grinsen vor Erleichterung nicht verkneifen, was Lukas aber gar nicht bemerkte.
„Wann se des ned gsogt häd, mei dann war i wahrscheinlich imp… o… also zeugunsunfähig, und würd jetzt ned Vater wern.“
„Ich glaub du übertreibst.“
„Mei, i bin so schnöi hoad gwoan und wias des gsagt hod: ‘damit du dir da unten nichts verkühlst’ – des hob i nia vergessn.“
„Hätte ich auch nicht.“
„Moanst, i muas des der Sandra föazöin?“
„Wenn du auch hören willst was sie so alles getrieben hat? Wahrscheinlich seid ihr glücklicher miteinander, je weniger ihr wisst. Jedenfalls jetzt, so am Anfang.“
„S’is nur, weil seitdem hob i east drauf g’achtet, dass i mi da untn ned verküi. I woas ned, ob mia sunst schwanger woan warn.“
Ich verkniff mir einen Kommentar mit anderen Möglichkeiten, von denen ich selbst einigen in der klinischen Praxis beiwohnen durfte. Lukas war auch so schon verunsichert genug. Denn dass er ‘da unten’ überhaupt noch zeugungsfähig war, grenzte an ein Wunder. Einmal war er beim Eishockey spielen auf der gefrorenen Vils eingebrochen, und dann hat er echt noch drauf bestanden das Match fertig zu spielen. Wir hatten ihn nur an unseren Stöcken wieder rausziehen können, ihn schnell noch das Siegtor schießen lassen, und haben ihn dann schleunigst ins Trockene gebracht.
Wir umarmten einander verdammt lange am Bahnhof, und die Blicke der Leute um uns herum waren mir so egal, dass ich ihm mit beiden Händen an den Hintern packte, und er wie auf Kommando an mir hoch sprang, als sei ich ein Baum und schlang seine Beine um mich.

Dann saß ich im Zug und winkte, bis ich ihn nicht mehr sah. Wir fuhren über die Vils, und ich konnte nicht fassen, dass Daniel von hier dort hinunter gesprungen war, und wie es Lukas unter der Brücke gewesen war, der ihn wieder heraus zog.
Wenn es ein ganzes Dort braucht, um ein Kind zu erziehen, heißt das nicht auch im Umkehrschluss, dass es ein Kind braucht, um einem Dorf einen Sinn zu geben? Ohne Lukas wäre Vilshofen nichts, jetzt wo wir schon so lange weg sind. Einen Kindskopf muss es überall geben.

© Jens Prausnitz 2022

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