Toll, jetzt kritzele ich drin rum, wie man Totenköpfe auf einen Schmetterling bringt, und eben habe ich mich noch über Aufkleber lustig gemacht. Um meine Hand lockerer zu kriegen habe ich mich mit Metalband-Logos aufgewärmt. Erstaunlich, wie viele ich noch immer aus dem Kopf kann. Nur meins von Anthrax sah eher danach aus, als sei es mittlerweile an sich selber erkrankt. Was ich natürlich auf das Geholper des Zuges schob, obwohl der gerade in einem Bahnhof steht, wo ich das hier tippe. Immerhin sind nur die Zeichnungen schlecht geworden, und nicht mir beim Zeichnen. Ups, geht weiter.
Bin in Berlin angekommen und warte an einer Currybude darauf, dass mich Dennis abholt. Beide sind unterwegs und so habe ich noch ein bisschen Zeit zu schreiben. Dazu begleitet mich die „Presto“ von Rush, weil ich das Gedudel aus dem Radio nicht ertrage. Ich erinnere mich noch, wie sie erschienen ist. Da war Daniel erst Tage oder Wochen weg, und wir hatten noch immer nichts von ihm gehört. Die Zeit nach seiner Flucht war beinahe genauso schlimm gewesen, wie die unmittelbar davor. Die Platte kam da wie ein Hoffnungsschimmer, gerade richtig, und gleichzeitig wie ein Telegram an ihn sich doch bitte endlich zu melden. Es war die erste Rush-Platte, die ich nicht zusammen mit ihm zum ersten Mal angehört habe. Und ich wusste, was mir da entging, denn es war alles, was er sich seit Jahren von ihnen gewünscht hatte: wieder mehr Gitarren, mehr 70er. Schon nach den ersten Takten von „show me don’t tell me“ war klar, dass sie wieder eine neue Phase ihrer Bandgeschichte begonnen hatten, und sich neu erfanden, wie immer nach einer Liveplatte. Ich heulte mindestens so sehr vor Glück wie aus Ärger darüber, damit allein zu sein. „The pass“ ging mir dann zu nah, und kam doch zur rechten Zeit. Neil sprach mir damit direkt ins Gewissen, wie der Vater den ich immer haben wollte.
Lukas war nicht so der große Rush Fan, wie wir es waren, nie gewesen. Die alten Sachen ja, aber danach holten sie ihn nicht mehr ab. Für ihn war mit „Moving Pictures“ Schluß.
Für uns drei begann damals nach Daniel’s Flucht eine neue Zeit, nur eben nicht mehr zusammen. Eigentlich hatte es schon mit dem Flüchtlingslager begonnen, es war ein längerer Prozess, aber wo genau hörte der auf? Einerseits hatten wir immer davon geträumt, von Freiheit – aber doch nicht so! Vielleicht nicht als Band, aber doch wenigstens als Freunde? Jetzt war er weg und mich brachten gerade meine widersprüchlichen Gefühle durcheinander.
Oh, gut – da kommt Dennis.
© Jens Prausnitz 2022