Kein Wunder, dass mir bei solchen Gedanken das Lesen schwer fiel. Auch zum Lesen braucht man Ruhe, bei der Arbeit geht es nicht. Jedenfalls nicht, wenn man seine wachen Phasen zum Schreiben nutzt. Ich werd deshalb erstmal darauf verzichten in den Nachtschichten zu lesen. Dann muss ich quasi schreiben. Multitasking ist halt Quatsch. Bleib bei einer Sache, und wenn dir was einfällt, mach es gleich oder schreib es auf einen Zettel für später. Ehrlich wahr.
Das heißt, einen geborenen Multitasker kenne ich: Lukas. Niemand sonst kann die widersprüchlichsten Dinge mit unsichtbaren Händen jonglieren, wo anderen der Angstschweiß ausbricht. Lukas scheint nicht zu wissen, dass es sich um laufende Motorsägen in seiner Rechten, und um zwei scharfe Handgranaten und eine Orange in seiner Linken handelt. Anderen würden da die Hände zittern, bei ihm bleibt der Kopf leer und er sieht nur den richtigen Weg. So jemand müsste eigentlich Chirurg werden, nur kann er eine Leber nicht von einem Schnitzel unterscheiden. Außerdem gibt es noch den ausgleichenden Nebeneffekt, dass er manchmal die einfachsten Sachen nicht auf die Reihe kriegt. Den Stundenplan lesen, die richtigen Hausaufgaben machen oder die nötigen Schulbücher mitbringen – wenn ihm jemand sagt, was er tun soll, blockiert etwas in seinem Kopf. Anarchismus ist im ebenso angeboren, wie Multitasking. Zugegeben, eine schräge Kombination. Und auch um seinetwillen wünsche ich mir, dass Clara und Dennis die ganze Wahrheit erfahren. Es ist ungerecht, wenn nicht auch Lukas umgekehrt endlich von ihnen erfährt.
Vor neunzehn Jahren hat er Nadine und Daniel zuletzt gesehen, als sie bei mir zu Besuch waren, kurz bevor sie sich getrennt haben. Als Nadine dann mit den Zwillingen schwanger war, wiederholten wir einfach die Abmachung, wie wir sie schon zuvor bei Valentin getroffen hatten. Wenn Lukas nicht wusste, wo sie wohnten und dass es ein Enkelkind – oder jetzt eben Enkelkinder – gab, dann konnte er sich nicht verplappern, musste nicht lügen. Daniel’s Eltern wussten das, und Lukas hat ihm mehr als einmal Hausarrest eingebrockt, weil man es ihm eben ansah.
Lukas tat das leid, und er schämte sich so sehr dafür, dass er versuchte sich im Lügen zu üben, aber das einzige, was er hinbekam war, dass ein anderes sichtbares Körperteil rot wurde: Nase, Backen, Ohren oder alles nacheinander, wie bei einer kaputten Ampel. Es war hoffnungslos. Bis wir dahinter kamen, dass man das auch zu unserem Vorteil nutzen konnte. Weil es sich bei den Eltern etabliert hatte, dass Lukas nicht lügen konnte, wurde er für sie zum wandelnden Lügendetektor. Aber wir fanden heraus, dass man die Wahrheit ein wenig zu unseren Gunsten verbiegen konnte. Wenn die Fragen nämlich nicht präzise genug gestellt waren, dann konnte sich Lukas dumm stellen, weil er ja nicht exakt danach gefragt worden war. Zum Beispiel die Frage, ob wir Alkohol getrunken hätten, verneinte Lukas dann erleichtert, weil wir ja keinen reinen Alkohol tranken. Ein Bier zum Beispiel besteht schließlich zu mehr als 95% aus anderen Substanzen als Alkohol, also trank man da doch in erster Linie Bier, und keinen Alkohol. Wenn man dann noch den letzten Schluck in der Flasche oder Dose ließ, konnte man sich damit rausreden, dass sich schließlich dort der Großteil des bösen Alkohols verbergen könnte, im Noagerl. Als würde er sich am Boden absetzten, wie Hefe im Weißbier.