17. Dezember 2019 – frei

Aber zurück in den Zug, von dem aus man am Berger-Gelände mit seinen Zementtürmen und dem Fuhrpark erkennt, dass es Zeit zum Aussteigen wird. Während man sein Gepäck aus der Ablage nimmt und sich in den Gang begibt, rauschen vor dem Fenster eine Tankstelle, Friedhof, Volksfestplatz und das Gerichtsgebäude vorbei, ehe einem die Sicht versperrt ist und der Zug schon über die Vilsbrücke fährt, von der Daniel in den Fluss gesprungen ist.
Daniel hat in der Oststadt gewohnt, dazu musste man nur beim Gericht gegenüber unter der Bahnunterführung durch. Außer Ein- und Mehrfamilienhäusern kam da nichts mehr, ein typisches Siedlungsgebiet eben, das da am Fuß und Hang des Hördterbergs lag. Natürlich nicht wirklich ein Berg, aber hoch genug um in der schwülen Sommerhitze aus der Puste, oder im Winter ins Rutschen zu kommen, egal ob man zu Fuß oder mit dem Fahrrad kam, hinauf oder hinunter wollte.
Daniel’s Eltern hatten dort eine Wohnung in etwa auf halber Höhe, wo eine Brücke über die Pfudrach zum Kloster auf dem gegenüberliegenden Schweiklberg führte.
Die Pfudrach war Daniels Gewässer, nicht die Vils, und wäre er von der Brücke gesprungen, hätte er sich das Bein gebrochen statt nur den Fuss verstaucht, denn die Pfudrach ist ein Bach. Natürlich haben wir den auch mal gestaut, weit oberhalb der Brücke, damit uns ja nicht Daniels Alter dabei erwischte. Das übernahmen dann halt die Anwohner dort, beließen es aber beim Schimpfen und der Aufforderung, das sofort wieder weg zu machen, was nur ein paar Handgriffe erforderte. Trotzdem hatte Daniel’s Vater bis zum Abend Wind von der Aktion bekommen, und ihm den Hintern versohlt. Dieses verdammte Netzwerk aus Anwohnern und Nachbarn war lückenloser, als es die Spitzel der Stasi jemals waren, und wurde von Generation zu Generation enger geschnürt. Die schlafen nie und schleichen dann noch den ganzen Tag um die Häuser, auf der Suche nach Einbruchsspuren oder Fremden, die sich verdächtig machten. Wobei Fremde von Haus aus verdächtig waren, weil wieso waren die nicht bei sich zu Hause? Doch ganz sicher weil sie hier einbrechen wollten, wo es schöner war. Alles und jeder war verdächtig, im Zweifel sogar die Eichhörnchen. Die Hand mit dem Telefonhörer verweilt am Vorhang, während die andere mit dem losen Zeigefinger schon über der Null auf der Wählscheibe schwebt, denn die 11 ist vorsorglich schon gewählt: Das „Elfer raus“ für Fortgeschrittene.

Um diese Pest in den Häusern zu halten, brauchte es schon einen Starkregen, dann konnten wir endlich unbeobachtet raus. Ich erinnere mich noch lebhaft an ein Unwetter, wo sich die Pfudrach in einen reißenden Strom verwandelt hatte und die braune Brühe knöcheltief auf der Straße stand, bis hinunter zur Bahnunterführung. Wie sonst nur eine sturmfreie Bude feierten wir die sichtbaren Sturmfolgen auf der Strasse: abgerissene Äste, davon treibenden Gullydeckel, blubbernd sprudelnde Rinnsteine, und wir mittendrin in Gummistiefeln. Alles ein bisschen mehr Abenteuerspielplatz als Katastrophengebiet, mit Keller wieder leer pumpenden Feuerwehrfahrzeugen als dem aufregendsten Anblick. Endlich war in der Stadt mal was los, und bis zum Flüchtlingslager 1989 war es dann halt wieder so ruhig wie eh und je. Lukas hat zwar was von einem großen Feuerwerk im Sommer erzählt, dass es jetzt schon seit einigen Jahren gäbe, aber das klang eher danach, als würde nur ein Ölteppich auf der Donau angezündet werden.

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