Leidensgesellschaft

Die wichtigen Menschen im eigenen Leben teilen oft das undankbare Schicksal, dass die Welt nie etwas über sie erfährt, dass sie ewig im Schatten ihrer Schützlinge stehen. Sie agieren im Hintergrund, sind einem Stütze und Anlaufstelle, selbst wenn sie sich nur nach einem erkundigen, einem zuhören und so doch elementar den Rücken stärken. Sie sind selten “Rampensäue” die sich nach vorne drängeln. Wenn Georg nach vorne kam, dann entweder um uns zum Lachen zu bringen, oder um uns zu ermahnen.

Gerburtstagsschos
Geburtstagsschos

Georg Bergmeier war für mich mehr als nur mein Deutschlehrer. Mehr als nur Leiter meines Abiturjahrgangs. Ohne ihn hätte ich nicht das Schreiben als Ventil für den damals in mir herrschenden Überdruck entdeckt. Im Tiefdruckgebiet des Gymnasiums waren manche Stunden bei ihm wie Inseln voller Sonnenschein, wo man hitzig diskutieren oder ebenso gut im Schatten vor sich hin dämmern konnte.

Von Vilshofen aus verschwanden dann viele von uns in die Welt hinaus, manche schafften es gar bis Aunkirchen, andere nur bis Warschau. Im Herzen behielt er uns alle. Erinnerte sich an mehr Namen als ich mir jemals ausdenken werde, und jeder von ihnen ist ein echter Mensch, dem er begegnet ist. Letzten August sah ich ihn zum letzten Mal, mit meinem Sohn an der Hand auf dem Weg ins Freibad. Oder war es danach, als ich ihn nach gemeinsamen Kaffee und Kuchen nach Hause begleitete, wir uns zum Abschied die Hand gaben und einander nicht los ließen, als hätten wir in dem Moment gewusst es ist das letzte Mal das wir uns sehen? Oder ist das schon wieder eine Erzählung, der Beginn einer Verklärung von erlebter Geschichte, die in der Rekonstruktion lebendiger und echter wird als sie jemals war?

Es verschwimmt alles vor meinen Augen, die Tränen machen es mir unmöglich klarer zu sehen. Und das ist gut so, denn dann sehe ich ihn mit dem Herzen. Und mit dem Herzen sieht man immer unscharf, die harten Grenzen und Konturen verlaufen, es ist die Unschärfe, die uns zueinander führt, die uns für andere öffnet. Da standen wir und ich wollte nicht gehen, nicht loslassen. Er sah mich gern, das spürte ich, und es war fast ein bisschen unangenehm. Ich weiß nicht was ihn trauriger machte, dass mich die Welt nicht so mit offenen Armen empfing wie er angenommen hatte, oder dass ich es wieder versuchte, erneut den Schritt in die Welt hinaus tat, statt noch ein bisschen länger bei ihm zu verweilen, um aufzutanken vielleicht? In Erinnerung blieb mir, wie er einmal nach einem Treffen mit mir sagte, er ginge jetzt noch an die Donau spazieren um ein bisschen zu weinen. Ich weiß nicht mehr ob er das mit dem Weinen tatsächlich gesagt hat, oder ob es nur so überdeutlich zwischen den anderen Worten mitschwang, so deutlich, dass man es hören konnte. Dieser Nebensatz tat weh. Es klang so traurig und einsam, als entspränge ein ganzes Donauhochwasser allein seinen Tränen. Immer noch hielt er meine Hand, und da war Zweifel in seinen Augen, ob er, der kinderlose die richtigen Abzweigungen in seinem Leben genommen hätte. Ich meine gesagt zu haben, dass er doch mehr Kinder als andere habe, und die im Gegensatz zu echten freiwillig zu ihm zurück kämen – und dann war es da: sein bezauberndes, gewinnendes Lächeln. Niemand konnte so lächeln wie er. So breit, so leuchtend, so unbedingt für sich einnehmend. Das war die beste Medizin. Wenn man ihn zum Lächeln bringen konnte – ach was, Lächeln! Dieses breite, umfassende, freche, überbordende, leuchtende Grinsen, das direkt aus dem Herzen kam und einen mitten ins Eigene traf, dieses Grinsen zu sehen war Belohnung und Segen, das man sich gerne verdiente, so sehr wärmte und tröstete einen dieser Anblick. Mit diesem Lächeln hätte er Karriere in Hollywood machen können. Stattdessen guckte es sich der spätere Oscarpreisträger Dustin Hoffman 1974 bei einer gemeinsamen Radltour in Berchtesgaden von ihm ab. Welch bodenlose Frechheit! Aber wir wissen, dass er an das Original niemals heran reicht. Das hat uns jetzt hoffentlich alle noch einmal zum Lachen oder Schmunzeln gebracht. Seht es vor euch, dieses unnachahmliche Grinsen.

Jetzt fehlt aber noch die obligatorische Ermahnung in seinem Namen, “aufgelesen und aufgespießt” gehört noch etwas. Wenn ihn etwas ärgerte, dann hat er nie ein Blatt vor den Mund genommen, konnte stur und bockig sein, er redete sich nahezu in Rage, nur um sich dann manchmal plötzlich doch überraschend von einer einsichtigen Seite zu zeigen, die man ihm gar nicht zugetraut hatte. Also lesen wir ihm zu Ehren etwas auf. Zusammen. Unsere Scheinheiligkeit. Und jetzt spießen wir sie auf. Wir sind nämlich viel zu selten da wo wir hingehören. Ich schreibe diese Zeilen aus vermeintlich sicherer Entfernung, bin in Gedanken aber ganz woanders, bei anderen um ihn Trauernden. Braucht es wirklich erst den Tod von einem geliebten Menschen, um uns für ein paar Stunden zusammen zu führen? In unseren Herzen?

Die letzte Auseinandersetzung die ich mit ihm hatte betraf das Internet und die “sozialen Medien”. Beides versuchte ich zu verteidigen, zu erklären, und stellte dabei doch nur fest, dass ich es selber noch nicht gänzlich begriffen habe, wie niemand von uns. Das hat auch beim Radio und Fernsehen länger gedauert, und dieses Medium ist deutlich komplizierter und komplexer, ich fand nicht die richtigen Worte. Ohne das Internet hätte ich erst zu spät von seinem Tod erfahren, und jetzt trägt es zu einem Hauch zeitnahen Trostes bei. Essentiell daran ist eben nicht seine Geschwindigkeit, sondern die Chance zur rechten Zeit über Zeit und Raum hinweg miteinander zu kommunizieren. Das ist niemals ein Ersatz für die entschleunigte, persönliche Begegnung, wie ich sie weiter oben geschildert habe, dennoch ist sie besser als nichts. Dem Internet fehlt trotzdem (s)eine “gute Seele”, das Verpflichtende, das vor Ort anpackende. Am Ende braucht es immer jemanden, der vom Computer oder Mobiltelefon aufblickt und handelnd in die Welt eingreift, der Konfrontation mit dem und den Anderen nicht aus dem Weg geht. Nur was wir selbst in die Welt hinaus tragen, was wir in der Begegnung im Hier und Jetzt erleben, das ist Kultur. Eben so ein Kulturmensch zum Anfassen war er. Tun wir es seinen besseren Momenten gleich,

… und geben wir einander die Hände ohne gleich wieder los zu lassen.

Sehen wir von unseren internetfähigen Geräten auf und einander stattdessen in die Augen, blinzelnd und unscharf.

Wenden wir den Blick nicht ab, sehen wir hin.

Dann erkennen wir uns selbst nicht nur in ihm wieder, sondern in jedem Gegenüber. Der Bergschos war nicht perfekt, und wir sind es ebenso wenig. Aber wir können eine familiäre Solidarität leben, wie sie unserer Gesellschaft bitter fehlt, eine Solidarität die über die Bluts- oder Wahlverwandtschaft hinaus geht.

Nehmen wir also das seinem Spitznamen “Bergschos” schon immer innewohnende Gebärende als Inspiration um uns als seine Kinder zu verstehen. Machen wir ihn zum Teil unserer Familie, der das Beste und Schlimmste an uns zur Welt brachte. Allesamt sind wir “Mißgeburten” wenn man das Schimpfwort mal innovativ von “vermissen” ableitet.

Wir, deine Mißgeburten grüßen dich zum letzten Geleit, du fehlst uns jetzt so, wie wir dir wohl schon eh und je. Jetzt liegt es allein an uns, ob wir diese, deine vorerst letzte Lektion an uns in etwas Konstruktives verwandeln.

Du verbindest uns hier und heute.

Das genügt aber nicht.

Nur dann, wenn es nicht das Ende, sondern einen Anfang markiert.

Hand in Hand und Auge in Auge.

Autsch.

Verzeihung, das war jetzt selbst mir eine Spur zu pathetisch. Ihm hätte es bestimmt gefallen. Wieder war er also der Anstoß zu verdammten Stunden voll einsamer Verzweiflung, in denen man sich mühsam Worte abringt, in sich hinein horcht, schreibt, aber machmal auf Erkenntnisse stößt, die man nicht hat kommen sehen. Ohne Schmerz und Enttäuschung gäbe es auch kein großes Glück. Beides hätte ich ohne ihn nicht so kennengelernt. Davon zehre ich bis heute, und darum tut es so weh, dass er jetzt nicht mehr da ist, um das Ergebnis und die Früchte mit ihm teilen zu können. An ihn denken kann ich beim Schreiben aber immer noch, und das werde ich auch weiterhin tun, damit er mich gelegentlich stumm ermahnen kann, und manchmal breit grinsend jedes weitere Wort überflüssig macht.

– – –

Weitere Nachrufe von ehemaligen Schülern und Wegbegleitern findet man auf der Seite des Kultur & Geschichtsvereins Vilshofen

2 Gedanken zu „Leidensgesellschaft“

  1. In tiefer Bewunderung für dein Spiel mit den Wörtern, das nur du so in dieser Perfektion beherrschst, danke ich dir für den Beitrag, der ihm absolut gerecht wird… ich drücke dich, Pauline

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